Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell
Übel des Kapitalismus herauskommen. […] Trotzdem kommen ihre Polit-Placebos sehr gut an. Warum nur?« Tja, warum nur … »Hessels Buch krankt daran, dass er im Grunde Faschismus und Kapitalismus gleichsetzt. Seine Rebellion bewegt sich auf dem Niveau des Poesiealbums. Hessel ist eben nicht der Anfang von etwas, sondern der Endpunkt eines Jahrzehnts, das tatsächlich wütend begann, mit den Straßenschlachten von Seattle, mit dem politischen Aufbruch, den Attac versprach, mit den Globalisierungsgegnern, die 2001 in Genua ihren ersten Toten als Märtyrer erlebten – ein Jahrzehnt im rasenden Wandel, das nun, ermüdet, ermattet, ernüchtert, mit dem Großvater-Rap von Stéphane Hessel schließt.«
Solche Stimmen waren in Deutschland aber die Ausnahme. Die Bewunderung der Person Hessel war allgemein, einige seiner Ansichten wurden als fragwürdig bezeichnet. Zuweilen wurde in Bezug auf ihn der Begriff »Wutbürger« verwandt, der aber so gar nicht passen will.
Ein bemerkenswertes Gespräch wurde in der
Jüdischen Allgemeinen
vom 3. März 2011 abgedruckt. Rüdiger Suchsland fragte Stéphane Hessel nach seiner jüdischen Identität und nach seiner Haltung zu Israel. Hier ging Hessel weiter als in den französischen Medien, vielleicht aus der diplomatischen Gewohnheit heraus, dem jeweiligen Gesprächspartner entgegenzukommen. Er gebrauchte sogar zweimal die Formulierung »wir Juden«, wenn auch nur, um seine Kritik an Israel zu bekräftigen.
Immerhin gab er zu, dass er keine jüdische Erziehung gehabt habe und dass in der (preußisch-protestantischen) Familie seiner Mutter antisemitische Ressentiments gepflegt wurden. Solidarität mit den Juden habe er zuerst in den Lagern gefühlt, vor allem in Dora; seitdem fühle er sich selbstals Jude. Von seinen jüdischen Wurzeln hätten die Nazis nichts gewusst. (Seltsamerweise verweist Hessel nie darauf, dass seine erste Frau Vitia aus einer jüdischen Familie stammte, ihre drei gemeinsamen Kinder somit als Juden gelten. Vitia war überdies verwandt mit Léon Poliakov, dem bekannten Historiker des Antisemitismus.)
Auf die Frage, ob seine Kritik an Israel nicht einseitig sei, sagte Hessel: »Eben weil ich mich als Jude empfinde und eine Solidarität gerade mit den Juden habe, die in Israel leben, habe ich große Angst, dass Israel […] sich von dem entfremdet, was es in den Anfangsjahren gewesen ist – ein weltanschauliches und demokratisches Modell.« Israel sei durch internationale Beschlüsse gegründet worden und müsse darum das internationale Recht respektieren. »Israel ist notwendig. Wir brauchen ein Land, in dem die Juden zu Hause sind. Aber Israel muss auf dem Recht basieren.«
Auf die eigentlich paradoxe Frage, ob Israel wegen der Shoah zu mehr Moral verpflichtet sei als andere Länder, antwortete Hessel: »Ja, wir Juden brauchen ein anständiges Israel.« Also doch zweierlei Maß? Das blieb offen.
Auch in der Bankenstadt Zürich gab es Proteste der Occupy-Bewegung. Die Demonstranten zelteten auf dem Lindenhof, einst das Herz des römischen Turicum. An jenem Oktoberende 2011 trat, zufällige Parallelität, Stéphane Hessel in einem Zürcher Vorort auf. Eingeladen hatte die Gesellschaft Schweiz – Palästina. Hessels Stärke seien sein Humor und seine Beharrlichkeit, schrieb der
Tagesanzeiger
danach und wusste auch zu berichten, dass Hessel befürchte, das Wort »Empörung« könne falsch verstanden werden, nämlich als Vorwand, aufeinander loszugehen. (28. 10. 2011) Hessel relativierte hier also schon seinen Slogan (den ja seine Verlegerin erfunden hatte), tat es auch bei anderen Gelegenheiten.
Aus Anlass seines Schweizer Auftritts erschien in der
WOZ – Die Wochenzeitung
ein äußerst bemerkenswertes und sehr ausführliches Interview mit dem Diplomaten. (14. 10. 2011). Auf alle Fragen, die mit
Empört Euch!
zusammenhingen, gab Hessel ausführliche Antworten, fügte aber auch einige wichtige Nuancen hinzu. »Die Empörung richtet sich nun gegen die heutige Weltordnung und gegen die Übermacht der Finanzinstitutionen«, hieß es da. Es folgte eine scharfe Abrechnung mit der Ideologie des Neoliberalismus, der an vielen der heutigen Fehlentwicklungen schuld sei, und auch mit der politisch-militärischen Reaktion der USA auf den 11. September. Heute beherrsche eine Oligarchie der Superreichen die Welt, gegen diese neue Form des Feudalismus gelte es, sich ein Mitbestimmungsrecht zu erkämpfen.
Hessel bekannte sich als Vertreter der
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