Stephane Hessel - ein gluecklicher Rebell
voraus.
Sollten Hessels Erbe und sein grandioses Leben in ein riesiges Missverständnis münden? Sollte es in Dienst genommen werden für parteiische und nicht eben friedliche Zwecke? Seine Kritiker unterstellen dies. Dass sein Menschenrechtsengagement nur Heuchelei und Vorwand sei, kann man nicht annehmen, wenn man sein Leben und seine Taten kennt, ihn aus der Nähe erlebt hat. Eher schon, dass er in seiner Liebe zur Jugend und zu den Kämpfern von morgen sich manchmal auf fragwürdige Felder der Militanz ziehen lässt. Doch wenn man so viel erlebt hat wie er, hat man vor nichts mehr Angst, nicht vor der Zukunft und auch nicht vor Missverständnissen. Der Ruhm ist ja ohnehin, wie schon Rilke wusste, nur die Summe der Missverständnisse,die sich um einen Namen sammeln – vielleicht sollte man eher sagen: um eine Gestalt.
Hier geht es um Stéphane Hessel, nicht um die Nahostpolitik. Sein Zugehen auf die Palästinenser ist der Versuch, sie in einen Verständigungsprozess einzubeziehen, obwohl (oder gerade weil) es so aussichtslos erscheint. Hessels Motto lautet: Auch das unmöglich Scheinende muss versucht werden. So hat er es in seinem Leben immer gehalten. Und in eben diesem Kontext muss man ihm sein Leben und seine Laufbahn zugutehalten, darf sie nicht als suggestives Beiwerk betrachten. Seine Aktion mag naiv wirken, aber das ist sein Verständnis von Diplomatie, auch wenn er kein Mandat hat.
Sein kometenhafter Erfolg war indes auch für alle, die ihn kannten, eine Überraschung. Man lernte einen ganz anderen Stéphane Hessel kennen, der sich selbst gleichwohl treu geblieben war. Seine mythische Vorgeschichte, sein unglaubliches Leben, sein Durchhaltevermögen haben sich in einem Punkt, in einem Moment verdichtet und wie mit einem Zaubertrick in etwas anderes verwandelt, in eine bleibende Gestalt, eine lebende Statue.
Als mythische Figur ist er auch ein Anreger, und es wundert einen, dass man nicht schon mehr über ihn geschrieben hat. Mit einem Fuß war er immer schon in der Literatur – das hat er von seinen Eltern und ein bisschen auch von Roché, vor allem hat ihn eine bestimmte Form des Lebens in der französischen Gesellschaft beeinflusst, die einen La Fontaine, einen Molière, einen Balzac, einen Flaubert, einen Sartre hervorgebracht hat.
Der Bezug zur Geschichte von
Jules und Jim
ist in seinem Leben nicht nur anekdotisch. Sie hat ihn als Knaben schon von der traditionellen Moral befreit, zugleich aber den Sinn für Form und Stil gestärkt. Stéphane behielt von jedem etwas, vom Vater den Rausch der Verse und die Verehrung der Antike, das Verständnis für den Mythos; vonder Mutter das Temperament und die Energie und vor allem das Glücksverlangen, die Lust auf Gegenwärtigkeit, auf Risiko, Aktion, Abenteuer; und von Roché die Liebe zur Kunst.
Als Hessels Schrift einschlägt wie ein Blitz, ist es, als habe die Gesellschaft darauf gewartet. Da tritt einer auf, der Protest und Widerworte herausfordert. Mit einem Schlag steht er im Zentrum der Aufmerksamkeit. Aber wofür steht er? Ganz sicher hat der Erfolg nicht nur mit ihm zu tun, sondern mit einem Zustand der französischen Gesellschaft. Und auch mit der allgemeinen Krise, die immer stärker das Bewusstsein prägt.
Die erste Generation des 21. Jahrhunderts sieht sich als deklassierte Generation. Für viele ist Hessel ihr Prophet. Es gibt einen großen Bildungsfortschritt, aber der Bildungsboom läuft in vielen Ländern Europas ins Leere. Selbst der Begriff des Fortschritts ist zweifelhaft geworden, seit er auf die Wachstumsraten der großen Konzerne und die Gewinne der Finanzakrobaten reduziert wurde, auch seit sich am unteren Rand der Gesellschaft eine neue Form der Armut und der Deklassierung breitmacht. Man braucht neue Ziele und neue Mittel. Einerseits blühen Schwellenländer auf, andererseits drücken Flüchtlingsmassen nach Europa.
Stéphane Hessel sagt: Die Gesellschaft stellt sich selbst in Frage, fühlt sich unsicher. Die Politiker wirken ahnungslos und überfordert. Man sollte aber anfangen, sich zu fragen, welches
unsere
Verantwortlichkeiten in der Lage sind. Man dürfe nicht einfach sagen: Man hört nicht auf uns. Hessels Aufruf ist eindeutig: Entscheidet euch, trefft eure Wahl, tut etwas.
Die neue Verehrung für Stéphane Hessel hat kultische Züge wie bei einem Popstar. Er weckt und bindet Erwartungen, dient auch als Projektionsfläche für Hoffnungen, Sehnsüchte,Ansprüche, fast wie ein Religionsstifter. Aber was ist er
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