Sterbelaeuten
eine Top-Managerin.“
Aber sie hatte einen neuen Chef gefunden, der ihr Putzjobs in Büroräumen gab. Nicht mehr Haarklumpen aus verdreckten Duschsieben fischen zu müssen, war nur ein Vorteil an dem neuen Job. Das Beste war, dass der Chef den Bustransport von Frankfurt am Main nach Krakau bezahlte, mit einem Bus, der nur in Dresden und Chemnitz hielt und die Reise in zehn Stunden bewältigte, für die sie bisher mehr als zwölf Stunden brauchte. Sonntagfrüh hin, Donnerstagabend zurück, das war jetzt schon seit zwei Jahren ihr Rhythmus.
„Warum suchst du dir keinen Job in Krakau, wenn du nicht mehr als Lehrerin arbeiten willst?“, hatte Josef gefragt. „Daniel kann dir einen Putzjob im Avatar vermitteln, das dürfte doch vornehm genug für dich sein.“
Tatsächlich gab es in Krakau jede Menge Jobs. Ausländische Firmen hatten sich angesiedelt, von Krise war nichts zu spüren. Aber Alicja wollte nicht in Krakau putzen. Es war auch nicht richtig, dass sie nicht mehr als Lehrerin arbeiten wollte. Sie mochte ihren Beruf, aber das Gehalt eines polnischen Lehrers war ein Witz gegen das, was sie mit dem Putzen verdiente. Vielleicht war sie keine Top-Managerin, wie Josef sagte, tatsächlich verdiente sie mit dem Putzen aber so viel wie eine polnische Top-Managerin.
Doch das zählte für Josef nicht. Er war selbst Lehrer und würde diesen Beruf niemals aufgeben. Er unterrichtete Latein und Geschichte. Trotz der schlechten Bezahlung war das in Polen immer noch ein angesehener Beruf. Eine ungelernte Hilfstätigkeit, und sei sie noch so gut bezahlt, käme für Josef niemals in Betracht.
Alicja konnte das nur zu gut nachvollziehen. Auch ihr war es peinlich, dass sie die Deutsch- und Englisch-Lehrbücher gegen den Putzlumpen getauscht hatte. Und deshalb wollte sie auch auf keinen Fall von ehemaligen Kollegen oder von Freunden beim Putzen angetroffen werden, daher kam selbst ein Job in Europas modernstem Bürogebäude Avatar für sie nicht infrage. Deutschland war die Lösung. Sie schnäuzte sich noch mal geräuschvoll und versuchte eine halbwegs bequeme Stellung auf dem abgewetzten Sitz zu finden. Sie schloss die Augen. Vielleicht konnte sie schlafen, möglichst viel der langen Fahrt verschlafen.
–
Vielleicht war es eine Vorahnung, vielleicht auch nur das leise Klicken, mit dem die Heizung ansprang, das Henry weckte. Er drehte sich zum elektrischen Wecker: erst fünf Uhr. Erleichtert legte er den Kopf wieder aufs Kissen und rutschte noch etwas tiefer unter die warme Decke. Das Telefon auf seinem Nachttisch klingelte. Henry fuhr auf und tastete benommen nach dem Hörer, warf ihn zu Boden, tastete nach ihm, hob ihn auf. „Hallo? – Okay Ich bin in zehn Minuten da.“ – „Ja, bis gleich.“
„Was ist los?“ Elisabeths Stimme war schlaftrunken.
„Es war Sibylle. Es geht zu Ende. Ihre Mutter hat nach mir gefragt.“
„Oh“, sagte Elisabeth, „du Armer.“
„Bis später.“ Henry legte sich seine Kleider über den Arm und ging aus dem Schlafzimmer. Als er die Tür schloss, sah er noch, wie Elisabeth sich unter der Decke einkuschelte und auch noch Henrys Kissen zu sich heranzog.
Vor dem Reihenhaus der Familie Heinemann blieb Henry einen Augenblick lang stehen, um sich zu sammeln. Die Luft war eiskalt. Über Nacht waren die Temperaturen noch mal gefallen. Auf dem Gras und an den Zweigen der Bäume hatte sich Raureif gebildet. Die kalte Luft brannte in Henrys Lungen. Ihm war, als müsse er Kraft tanken, für das, was ihn drinnen erwartete. Man betritt ein Sterbehaus intakt, als mehr oder weniger glücklicher Familienvater, Ehemann, Sohn, dachte Henry. Und in den Augen der anderen verlässt man es auch so. Aber irgendetwas tut es mit dir. Als werfe es einen Schatten über dein Glück. Das muss die Angst sein, dachte Henry, heute diese Frau, morgen du oder die Deinen? Er schüttelte die Gedanken ab und klingelte.
Das Licht im Flur ging an und die Tür wurde geöffnet. Stephanie bat Henry herein. Sie war blass und sah klein und schmal aus. „Danke, dass du gekommen bist“, sagte sie. „Frau Dr. Herold habe ich auch schon angerufen. Sie ist unterwegs.“
Sie führte ihn ins Wohnzimmer, wo Frau Heinemann ihr Bett hatte, seit sie keine Treppen mehr steigen konnte. Neben der Tür stand ein Esstisch. Dort, wo früher wohl das Sofa gewesen war, stand das Bett. Der restliche Raum wurde von einem dunkelbraunen Flügel eingenommen. Stephanie führte Henry ans Bett. „Sie möchte mit dir allein sein.“ Stephanie
Weitere Kostenlose Bücher