Sterbelaeuten
war ja auch schon fast siebzig. Und das als Privatdetektiv. Aber schade war es doch. Was dann wohl aus seiner Sekretärin wurde? Ursel hoffte, dass sie bald eine neue Stelle fand.
Der Zähler lief ab und das Ungetüm gab einen synthetischen Signalton von sich. Ursel stieg schwer atmend vom Hometrainer. Sie schaltete den Fernseher aus und die plötzliche Stille schien ihr etwas zuzurufen, klingelte in ihren Ohren. Sie setzte sich aufs Bett, um zu verschnaufen. Ihr war schwindelig.
Als der Mann durch die angelehnte Terrassentür trat, hatte die alte Frau die Augen geschlossen und atmete tief ein und aus. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie sich einem schwarzgekleideten Vermummten gegenüber, der ihr Kissen in den Händen hielt. Sie stieß einen Schrei aus, fasste sich an den Hals und rutschte langsam an der Bettkante schleifend zu Boden. Von dort starrte sie ihn mit vor Angst geweiteten Augen an, als sei sie unfähig zu sprechen oder sich zu bewegen. Der Mann blieb ruhig stehen und wartete. Ein Zucken durchfuhr den Körper der Frau. Sie röchelte. Ihr Kopf sank leicht zur Seite. Sie lag still. Der Mann wartete noch einen Augenblick, zog dann einen Handschuh aus, bevor er mit den Fingern ihren Hals berührte, um den Puls zu fühlen. Dann richtete er sich auf und legte das Kissen zurück aufs Bett, strich es glatt. Er hatte es gar nicht gebraucht. Das war gut. Und doch. Er registrierte einen Hauch von Enttäuschung, die ihn erstaunte.
Erster Advent
Erster Advent, zehn Grad plus, Nieselregen. Es war Weihnachtsmarkt in Sulzbach. Auf dem Kirchplatz standen Buden mit Adventskränzen, selbstgekochter Marmelade, selbstgebackenen Plätzchen, selbstgebastelten Lampen. Alle Laternen am Platz waren mit Sternen aus Tannenzweigen geschmückt. Auf der Bühne am Brunnen flötete eine Kindergruppe „Stille Nacht“. Es roch nach Glühwein. Henry nippte an einem Becher mit „Finnischem Punsch“ vom evangelischen Kindergarten. Er stand mit seiner Frau Elisabeth und Thomas, dem Küster, unter dem Vordach der Kirche.
„Wer ist eigentlich der Mann, der da gerade an unserem Stand mithilft?“, fragte Elisabeth. „Der mit dem kurzen Ledermantel?“
„Keine Ahnung“, sagte Henry. Er war nur Pfarrer dieser Gemeinde. Er konnte unmöglich jeden kennen, der am Kirchenstand aushalf.
„Er heißt Clausen“, sagte Thomas, „Jakob Clausen.“
„Ich habe den Mann noch nie gesehen“, wunderte sich Elisabeth. Elisabeth konnte sich Gesichter und Namen gut merken und nach fünf Jahren in Sulzbach gab es kaum jemanden, den sie nicht mindestens schon mal gesehen hatte, jedenfalls niemanden aus dem Dunstkreis von Menschen, die es als Helfer auf den Weihnachtsmarkt verschlug. Henry beneidete sie um ihr Personengedächtnis.
„Er ist vor ein paar Wochen im Gemeindebüro aufgetaucht“, erzählte Thomas. „Ein Freund von Herrn Torat. Kommt aus Süddeutschland und ist vor kurzem hergezogen.“
Johannes Torat, Dekanats-Kirchenmusiker, war der Gemeinde seit dem Sommer mit einer Viertelstelle als Organist und Kantor beigegeben. Seine Einführung im Juni hatte allerhand Wirbel verursacht. Er war ein gutaussehender Mann Ende dreißig, charmant. Ein bisschen pompös, wie Henry fand, aber in der Gemeinde kam er gut an, vor allem bei den Frauen. Und nun hatte er anscheinend auch noch einen weiteren jungen Mann für die Gemeinde gewonnen, was ja leider nicht selbstverständlich war. Leute in diesem Alter traten eher aus der Kirche aus statt ein. Mit dem Beginn des Arbeitslebens wurde aus der oft gleichgültig geduldeten Mitgliedschaft in der evangelischen Kirche eine schmerzhafte Bürde, monatlich schwarz auf weiß auf der Gehaltsabrechnung ablesbar.
„Und was will er bei uns?“, fragte Henry. Der Punsch schmeckte klebrig und zu süß. Henry sah sich um, in der Hoffnung, ihn unauffällig entsorgen zu können.
„Was ist denn das für eine Frage? Er sucht Anschluss“, sagte Thomas. „Ist doch naheliegend, sich einer Kirchengemeinde anzuschließen, wenn man in eine neue Stadt zieht.“
Thomas war fromm. Als Kind hatte er den Kindergottesdienst besucht, als Jugendlicher den CVJM und als junger Mann einen Hauskreis. Dort hatte er auch seine Frau kennengelernt, die vor sechs Jahren gestorben war. Wenn er einmal aus Sulzbach wegginge, würde er sich selbstverständlich in seinem neuen Wohnort eine christliche Gemeinde suchen und hoffen, dort neue Freunde zu finden.
„Wohnt er denn in Sulzbach?“, fragte Elisabeth.
„Nein, in
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