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Sterben auf Italienisch - Ein Aurelio-Zen-Roman

Titel: Sterben auf Italienisch - Ein Aurelio-Zen-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Dibdin
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bereits alles, was er je über süditalienische Frauen gehört hatte, in die Recyclingtonne geworfen. Zwei Generationen gesunder Ernährung und guter medizinischer Versorgung hatten Wunder bewirkt. Wie die gleichaltrigen jungen Frauen bei ihm zu Hause zeigten sie viel nackte Taille, aber hier sehr viel mehr - in einigen Fällen von knapp über dem Schambein bis unter die Brust -, und zumindest im sanften Schein der Straßenbeleuchtung betrachtet sah alles sehr viel besser aus. Und das Beste von allem, Tom war nicht bloß ein Zuschauer, sondern ein Objekt, das erhebliches Interesse auf sich zog. Die Trupps von Mädchen, die immer wieder an ihm vorbeischlenderten, warfen ihm lang anhaltende, intensive und überraschend freizügige Blicke zu. Sie schienen in einem beinahe beunruhigenden Ausmaß ein instinktives Gespür dafür zu haben, weshalb sie hier waren und wie lange sie Zeit hatten, ihr Ziel zu erreichen, so dass sie keine Gelegenheit verstreichen lassen wollten, zur Sache zu kommen. So würde daheim in den Staaten ganz gewiss niemand Tom ansehen, als ob er eine Ware wäre, die man begutachtete. Hier herrschte auf offener Straße eine so heiße und mit Sex geladene Atmosphäre wie in einem Club.
    Alles in allem ging es ihm unanständig gut, dachte er, während er dem Barmann signalisierte, ihm noch ein Bier zu bringen. Er hatte den größten Teil des Nachmittags damit verbracht, ein Handy auszuwählen und schließlich zu kaufen, und es dann benutzt, um Martin Nguyen anzurufen und ihre Verabredung für den heutigen Abend zu ändern. Bei genauerer Überlegung war ihm nämlich klar geworden, dass er keine Lust hatte, mit irgendeinem langweiligen Managertyp beim Essen festzusitzen, deshalb hatte er einen plötzlichen Termin im Zusammenhang mit der Entführung seines Vaters vorgeschoben und sich um zehn mit ihm in dieser Bar verabredet. Toms Italienisch war zwar noch ein bisschen eingerostet, doch seine Bemühungen, es zu sprechen, wurden anscheinend verstanden und auch gewürdigt. Kurz gesagt, wenn er aus irgendeinem anderen Grund hier gewesen wäre, wäre es für ihn ein Traumurlaub. Doch mochte er innerlich noch so zufrieden sein, er durfte es sich nicht anmerken lassen, genauso wenig wie er eine der vorbeiflanierenden Frauen ansprechen - jene beispielsweise mit den atemberaubenden Beinen, dem tiefen Dekolleté und dem Blick einer Löwin - und um ihre Telefonnummer bitten durfte. In einer so traditionellen Gesellschaft wie dieser hier, wo die Familie absolut im Mittelpunkt stand und der Vater ihr unbestrittenes Oberhaupt war, wäre in seiner Situation der Versuch, eines der Mädchen anzubaggern, ebenso schlimm, wie auf den Hochaltar zu pissen.
    Und das Schlimmste war, diese Angelegenheit könnte sich noch Wochen, ja sogar Monate hinziehen. Sowohl Nicola Mantega als auch der örtliche Polizeichef hatten das deutlich zu verstehen gegeben. Nicht dass er es eilig hatte, wieder abzureisen, dachte er, als er einen flotten Käfer begaffte, der nicht älter als fünfzehn sein konnte, mit riesigen Titten unter einem T-Shirt, auf dem in Englisch WILL FUCK FOR LOVE stand. Tom hätte nichts lieber getan, als endlos zu bleiben und seinen Spaß zu haben, doch das war undenkbar. »Wie konntest du nur?«, würden die Leute ihn schockiert fragen, und er wusste nicht, was er antworten sollte, nicht einmal vor sich selbst. Seit mindestens zehn Jahren hatten er und sein Vater getrennte Leben in anderen Städten an entgegengesetzten Küsten geführt. Besuche kamen selten vor und beschränkten sich auf wenige Stunden in einem Restaurant oder während einer Veranstaltung, wenn sein Vater geschäftlich nach New York kam, und die Telefongespräche waren sporadisch, kurz und unpersönlich. Als Mamma noch lebte, hatte Tom sich verpflichtet gefühlt, in den Ferien zu seinen Eltern nach San Francisco zu fahren, doch nach ihrem Tod war sein Vater in eine Eigentumswohnung gezogen und hatte das Gästezimmer demonstrativ in ein Büro umgewandelt.
    So war das jahrelang gelaufen, und obwohl sie nie darüber geredet hatten, hatte Tom allen Grund zu der Annahme, dass seinem Vater diese Regelung genauso gelegen kam wie ihm. Und gewiss hatte er keinen Grund gesehen, weshalb das nicht auf längere Sicht so weitergehen sollte. Doch durch die Entführung hatte sich alles verändert. Er konnte nicht einfach so weitermachen wie bisher. Er musste lernen, die Rolle des liebenden und anhänglichen Sohnes zu spielen, der traumatisiert war von dem grausigen

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