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Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)

Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)

Titel: Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Conrad
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schafft Zukunft, selbst wenn sie nur noch begrenzten Raum hat, selbst wenn unsere Welt vielleicht schon morgen untergeht. »Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würd’ ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen«, soll Martin Luther gesagt haben. Wir brauchen ein Ziel, auch für die letzte Wegstrecke unserer Reise.
    Für meinen Vater war eines seiner letzten Ziele, eine Sammlung seiner Lieblingsgedichte fertigzustellen. Eine Aufgabe, die ihn bis zu seinem Tod begleitet hat. In den letzten Monaten und Wochen seiner Krebserkrankung gab sie ihm, trotz aller Schmerzen und der bleiernen Müdigkeit, die Energie, morgens aufzustehen, seinen Freund, den Morgenstern, zu begrüßen und sich an die »Arbeit« zu machen. Er hat jeden Tag seine Frau im Pflegeheim besucht und ihr vorgelesen, er, der früher kaum wusste, wo Töpfe und Pfannen standen, studierte Kochbücher und bestand darauf, sich selbst sein Essen zu bereiten. Mein Vater hat lange Listen von Büchern gemacht, die er unbedingt noch lesen wollte, und bis zuletzt Lotto gespielt. Er muss also noch Träume gehabt haben. Träume, Wünsche, Hoffnungen, Kleinigkeiten vielleicht, die seinem Leben aber Zweck und Struktur gegeben haben.
    »Die Zeiten«, wo, wie in Grimms Märchen vom Froschkönig, »das Wünschen noch geholfen hat«, sind also auch am Lebensende längst noch nicht vorbei:
    Ein Freund, der inzwischen gestorben ist, wollte noch einmal bei Sonnenschein und warmem Wetter eine Motorradtour machen, und er ist tatsächlich auch noch bei strahlendem Wetter mit Freunden auf die Wartburg gefahren. Und auch Ava, der die Ärzte nicht mehr viel Zeit gegeben haben, hat sich die Frage gestellt: Was möchte ich noch erreichen und erleben, bevor ich sterbe? Sie steckte sich zunächst ganz kleine Ziele: Den Tanzstundenball, die Führerscheinprüfung, das Abitur der Kinder wollte sie noch miterleben, wollte sicher sein, dass alle auf eigenen Beinen stehen können und durch ihren Tod nicht völlig aus der Bahn geworfen werden. Mittlerweile studieren die Kinder, leben selbständig, und die Mutter ist zuversichtlich, dass sie ihren Weg gehen werden und in der Lage sind, Verantwortung für ihre Entscheidungen zu übernehmen. Heute sind Avas Träume schon ein bisschen kühner: Ihren fünfzigsten Geburtstag würde sie gerne noch erreichen, und wer weiß, vielleicht könnte sie eines Tages doch ihr erstes Enkelkind im Arm halten – die Verhandlungen mit dem Schicksal sind noch nicht abgeschlossen. Ein großer Wunsch ist es auch, noch einmal ihre Familie in der alten Heimat zu besuchen, sich von ihren Eltern, den Geschwistern verabschieden zu können.
    Ziele sind wichtig, um sich nicht aufzugeben. Um sie zu erreichen, würde Ava wohl noch einiges auf sich nehmen. Aber sie hat auch Grenzen gesetzt. Nach acht dramatischen und sehr schweren Operationen sagt sie: »Bis zu zehn Operationen würde ich noch gehen, aber dann ist endgültig Schluss.« Eine weitere Chemo kommt für sie nicht mehr in Frage. Deshalb will sie rechtzeitig alle ihre Angelegenheiten klären und in Ordnung bringen, auch die ganz nüchternen, praktischen Dinge wie Testament, Patientenverfügung oder die Frage, wie sie beerdigt werden möchte. Alle Belange sollen im Interesse von Mann und Kindern klar und eindeutig geregelt sein. Und das ist etwas, das ich immer wieder in meinen Gesprächen gehört habe: wie wichtig es ist, die Familie gut aufgehoben zu wissen, im inneren Frieden mit den Angehörigen zu sein und die Sicherheit zu haben, dass alles geklärt ist, man keine Baustellen hinterlässt. Das lässt sich auf alle Bereiche beziehen – auf das Persönliche, Zwischenmenschliche, aber auch auf materielle Dinge.
    Praktische Vorbereitung
    Ordnung führt zur Freiheit.
Charles Péguy
    Ein Freund erzählte mir, wie er zum ersten Mal nach dem Tod seines Vaters dessen Wohnung betreten hatte. Überall Berge von Papier, ungeöffnete Briefe, Postkarten, Kontoauszüge, gelesene und ungelesene Zeitungen, Rechnungsbelege, Versicherungspolicen – ein einziges Tohuwabohu sei das gewesen, und da habe er sich erst einmal hinsetzen und eine Runde heulen müssen, über alles: den Tod des Vaters, den endgültigen Abschied von seiner Kindheit und über dieses Chaos, das ihm zeigte, wie völlig überfordert sein Vater die letzte Zeit seines Lebens gewesen sein musste.
    Er lebte in einer anderen Stadt, war eingespannt im Beruf und hatte jede Menge Verpflichtungen. Sie hatten öfter telefoniert, aber sich nur

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