Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)
seien es weitere Angehörige, Ärzte, Vertreter der Krankenkasse oder Bankmitarbeiter.
Meine Eltern hatten mir seinerzeit mit einer Generalvollmacht die Verantwortung für den Fall übertragen, dass sie Entscheidungen nicht mehr alleine würden treffen können. Ich habe diese Vollmacht tatsächlich mehrfach gebraucht – im Umgang mit Ämtern und Behörden, mit der Bank und zuletzt auch mit den Ärzten im Krankenhaus. Das war für mich der kritischste und zugleich wichtigste Punkt, als es nämlich um die Frage ging: Unter welchen Umständen und zu welchem Preis wollen meine Eltern weiterleben, und wie wollen sie sterben?
Das ist vielleicht die persönlichste und intimste aller Fragen, und wer möchte diese existentielle Entscheidung schon anderen überlassen? Wer will im Ernst dem Ehepartner oder seinen Kindern die Verantwortung dafür aufbürden, wie das eigene Ende aussehen soll?
Als meine Eltern in unsere Nähe zogen, ging es beiden nicht mehr gut. Mein Vater hatte eine schwere Krebsoperation hinter sich, die er nur knapp überlebt hatte, meine Mutter klagte immer häufiger über geistige Aussetzer, die sie mit den Worten kommentierte: »Irgendwie laufe ich heute ohne Kopf herum.« Sie brauchten Unterstützung im Alltag, wollten aber, soweit möglich, ihre Eigenständigkeit behalten. Eine kleine Wohnung, nur ein paar Ecken von uns entfernt, war ein guter Kompromiss. Sie führten weiter ihren eigenen Haushalt, waren unabhängig, und gleichzeitig konnte ich mehr für sie da sein und jederzeit vorbeischauen, konnte Dinge für sie erledigen, sie zu Ärzten begleiten, einfach da sein, wenn sie etwas brauchten. Eines war mir jedoch schnell klar: Es gab Angelegenheiten, die ich für sie nie würde entscheiden wollen oder können. Die möglicherweise zentralen Fragen am Ende ihres Lebens würden sie selbst für sich beantworten müssen: Ist mir der Gedanke erträglich, jahrelang ein Pflegefall zu sein oder kann ich mir nicht vorstellen, unselbständig und in völliger Abhängigkeit weiterzuleben? In wessen Gegenwart fühle ich mich wohl und ruhig? Wen will ich beim Sterben bei mir haben und wen lieber nicht? Wie wichtig ist mir die Unterstützung durch einen Seelsorger oder Pfarrer? In welchen Fällen will ich beatmet, unter welchen Umständen künstlich ernährt werden, wann und wie lange sollten intensivmedizinische Eingriffe noch vorgenommen oder möglicherweise lebenserhaltende Geräte irgendwann abgeschaltet werden? Ich wollte und konnte nicht Herrscherin über Leben und Tod meiner Eltern sein und habe deshalb beide schließlich davon überzeugen können, in einer Patientenverfügung ihre Vorstellungen und Wünsche festzuhalten.
Seit 2009 ist in Deutschland gesetzlich geregelt, wie der Wille eines Patienten bei der Behandlung berücksichtigt werden kann und muss. Vorher war es strafbar, Behandlungen abzubrechen oder lebenserhaltende Maßnahmen nicht vorzunehmen, nun ist es – wenn der Patient das wünscht – erlaubt. Mehr noch: Diesen Wünschen müssen Ärzte heute folgen. Kein Patient darf mehr gegen seinen erklärten Willen behandelt, keine Patientenverfügung missachtet werden, sonst ist der Straftatbestand der Körperverletzung erfüllt.
Das Erstellen einer solchen Verfügung ist nicht wie das Lösen eines Kreuzworträtsels. Es bedarf intensiver Auseinandersetzung und viel Überlegung, bevor man Handlungsanweisungen fixiert, die im Ernstfall über Tod und Leben entscheiden können. Aber es gibt hilfreiche Anleitungen bei den verschiedensten Stellen, mir haben die Vorlagen und Textbausteine des Bundesministeriums der Justiz und des Malteser Hilfsdienstes weitergeholfen. 13 Meine Eltern und ich haben den Entwurf einer Patientenverfügung Punkt für Punkt durchgearbeitet. Wir haben darüber diskutiert, was bestimmte Formulierungen bedeuten und haben uns viel Zeit gelassen. So etwas muss nicht an einem Abend passieren. Das ist ein Prozess, in dem man vielleicht auch seine Meinung wieder ändert und in dem man vorgegebene Sätze nicht einfach nur absegnen, sondern manches für sich passend selber formulieren kann. Jede Patientenverfügung sollte individuell zugeschneidert sein.
Als es etwa um die Frage der künstlichen Ernährung ging und darum, unter welchen Umständen man sie vielleicht ablehnen sollte, hatte meine Mutter die Sorge, sie müsse ohne eine solche Maßnahme irgendwann womöglich verhungern. Solche Ängste sind legitim, ihnen kann in jeder Patientenverfügung Rechnung getragen werden. Deshalb
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