Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)
souveräne Leserin von Alan Bennett. Darin wird ein Buch der Queen aus Sicherheitsgründen gesprengt – man hatte es für eine Bombe gehalten. Und dann heißt es: »Ja. Genau das ist es auch. Ein Buch ist ein Sprengsatz, um die Phantasie freizusetzen.« 11
Bücher sind für mich schon immer wichtige Begleiter gewesen. Meine Eltern haben mir diese besondere Welt erschlossen, in der es so unendlich viel zu entdecken gibt. Zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen gehörte der Familienbrauch, in der Vorweihnachtszeit gemeinsam ein Buch zu lesen: Erst waren es Kinderbücher wie Krabat von Otfried Preußler oder Großer Tiger und Christian von Fritz Mühlenweg, später dann Klassiker wie Dostojewskis Die Gebrüder Karamasov und Große Erwartungen von Dickens. Wenn ich an diese Abende zurückdenke, dann ist da wieder die besondere Atmosphäre jener Stunden und das herrliche Gefühl, in aufregende, andere Welten einzutauchen und durch die vielen erdachten Figuren und Geschichten Gefühle und Gedanken kennenzulernen, die mir so ganz neu und fremd waren.
Auch ihre Liebe zu Gedichten haben mir meine Eltern mitgegeben. Und die spielten beim Abschied von beiden eine besondere Rolle. Mein Vater hat in ihnen im Zugehen auf den Tod Antworten und Trost gefunden. Sie haben seine Gedanken in den Stunden der Sprachlosigkeit in Worte gefasst: Furcht, Heimsuchung, Lebensbilanz, Auflehnung und wieder Hoffnung. Das alles hat er in den Zeilen derer gefunden, die den gleichen Weg wie er gegangen waren. Es war ihm wichtig, diese »Kraftquelle« an seine Familie weiterzugeben, deshalb wollte er zuletzt seine Lieblingsgedichte zum Thema Leben und Abschied in einem kleinen Büchlein zusammenstellen. Aber er ist damit nicht mehr fertig geworden. In den letzten Tagen vor seinem Tod hat er mich deshalb gebeten, zusammen mit seiner Schwester dieses Vorhaben für ihn zu Ende zu bringen. Fast bis zum Schluss hat er mir noch Texte diktiert, festgelegt, was unbedingt in dieses Büchlein hinein kommen und was doch besser draußen bleiben sollte. Für meinen Vater war das seine Strategie im Umgang mit Tod und Sterben, eine Art Vermächtnis. Für meine Tante und mich war es die Möglichkeit, ihm auch nach seinem Tod noch ganz nah zu sein.
Im Zusammensein mit meiner Mutter waren Gedichte bis zuletzt eine Art Brücke, um sie in ihrer Welt erreichen zu können. In den zweieinhalb Jahren, die sie vor ihrem Tod in einem Pflegeheim verbrachte, habe ich ihr oft die alten und vertrauten Verse vorgelesen, die sie zum großen Teil – trotz ihrer fortschreitenden Demenz – immer noch mitsprechen konnte. Sie, die sonst oft nach Worten ringen und suchen musste, war glücklich, wenn ihr die Zeilen ohne Stocken und Zögern über die Lippen kamen. Jedes Gedicht, das sie noch auswendig konnte, war ein kleines Stück Vergangenheit, das heil geblieben war. Und das gab ihr Sicherheit und Halt.
Am letzten Abend vor ihrem Tod saß ich an ihrem Bett, und wir sprachen gemeinsam ein Gedicht von Eduard Mörike, ein Gebet:
In ihm sei’s begonnen,
der Monde und Sonnen
an blauen Gezelten
des Himmels bewegt.
Du, Vater, du rate!
Lenke du und wende!
Herr, dir in die Hände
Sei Anfang und Ende,
sei alles gelegt.
Das war unser Abschied, nur ahnten wir das beide damals nicht. Sie lächelte, als ich ging, warf mir mit der Hand noch ein Küsschen hinterher. Es war das letzte Mal, dass ich sie lebend gesehen habe. Ihr Tod kam am Ende doch so plötzlich und unerwartet, dass ich nicht bei ihr sein konnte, als sie starb. Es waren nur ein paar Minuten, die ich zu spät gekommen bin, aber ich war zu spät. Zwei Dinge trösten mich heute darüber hinweg: Meine Mutter war nicht allein. Sie starb in den Armen einer jungen Pflegerin, die sie ganz besonders mochte. Und: Wir hatten diesen wunderbaren letzten Moment zusammen. Mörikes Gedicht wird für mich immer ein Teil meiner Erinnerung an unseren letzten Abend sein.
*
Der erste Schritt, den Tod zu üben, ist also das Innehalten, Hinschauen oder Hinhören. Mir helfen dabei die Steine, die auf meinem Schreibtisch liegen, Gedichte, ein Musikstück, Vogelgezwitscher oder ein Hortensienbusch, der im Herbst vertrocknet und mir gleichzeitig das Versprechen gibt, im nächsten Frühjahr wieder zu blühen. Die Fähigkeit, die Schönheit des Augenblickes wahrzunehmen, den Atem der Ewigkeit zu spüren, sollte eine Übung werden, die uns in unserem Alltag begleitet. Und zwar nicht erst, wenn uns ein Warnschuss aufschreckt, die Katastrophe da ist. Sie
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