Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)
sollten alle denkbaren Fälle in Ruhe durchgespielt und allgemeine Formulierungen vermieden werden. Man sollte nicht generell von »Apparatemedizin« sprechen, denn Apparate können medizinisch sehr hilfreich und bei der Behandlung von Schmerzen unerlässlich sein. Eine Morphinpumpe beispielsweise ist auch ein Apparat. Oder, auch eine Frage, mit der wir uns intensiv befasst haben: Was ist gemeint, wenn von »unwürdigem Dahinvegetieren« die Rede ist? Wie beurteilt man den Zustand eines Schwerstkranken, Sterbenden? Eine Hospizmitarbeiterin hat mir erzählt, dass eine Situation, die für einen gesunden Menschen unzumutbar erscheinen mag, für den Betroffenen immer noch erträglich oder sogar lebenswert sein kann. Dass ein Zustand, der Außenstehenden als qualvoll und würdelos erscheint, für den Kranken eben doch auszuhalten ist. Viele Menschen sind am Ende bereit, viel mehr auf sich zu nehmen, als sie vorher je gedacht haben.
Unmittelbar nach meiner Chemotherapie hatte ich mir geschworen: nie mehr! So etwas mache ich nicht mehr mit, dann sterbe ich lieber. Heute, mit etwas Abstand, bin ich mir da nicht mehr so sicher. Wenn es am Ende um Leben oder Sterben geht, hält man plötzlich einiges aus, und schließlich haben sich inzwischen auch die Chemotherapien verändert. Heute sollen sie sanfter, verträglicher sein.
Weil sich also die Koordinaten und auch die eigene Haltung immer wieder ändern können, ist es umso wichtiger, eine Patientenverfügung, wenn sie einmal ausgefüllt und unterschrieben ist, nicht als in Stein gemeißelt zu betrachten. Jede Patientenverfügung ist jederzeit widerrufbar, auch noch ganz am Schluss. Man sollte sie sich vielleicht deshalb immer mal wieder vornehmen und überlegen: Stehe ich noch zu der Entscheidung von vor einem oder vor fünf Jahren? Habe ich vielleicht Erfahrungen mit Menschen gemacht, die mir wichtig sind, die meinen Blick auf Tod und Sterben verändert haben? Man sollte seine eigene Haltung überprüfen, auch mit anderen darüber sprechen. Der Austausch mit Angehörigen, Freunden, Menschen, die einem nahestehen, kann in diesem Entscheidungsprozess sehr unterstützend sein. Ein solches Gespräch sollte in ruhiger, entspannter Atmosphäre stattfinden, nicht erst auf einer Intensivstation oder in der Notaufnahme. Doch oft wollen Eltern ihre Kinder nicht mit solchen Fragen belasten, und umgekehrt machen Kinder sich Gedanken, dass ihre Eltern es vielleicht missverstehen, wenn sie Fragen nach dem Lebensende thematisieren. Sie könnten womöglich den Eindruck haben, man rechne mit ihrem baldigen Tod. So drücken sich beide Seiten aus unterschiedlichen Gründen vor diesem Thema – meist zu Unrecht, wie ich aus persönlicher Erfahrung weiß. Denn bei solchen Gesprächen entsteht sehr oft große emotionale Nähe, und das Vertrauen zwischen Betroffenen und Angehörigen festigt sich. Es klären sich für beide Seiten wesentliche Fragen, und es wächst die Sicherheit, dass der jeweils andere weiß, was man sich wünscht.
Meine Eltern und ich haben gemeinsam darüber gesprochen, wovor sie Angst haben, was ihnen wichtig ist, was sie in Kauf nehmen möchten, um weiterleben zu können. Mir gab das die Gelegenheit, auch über meine eigenen Ängste, Wünsche und Bedürfnisse nachzudenken.
Das Schlimmste war für uns alle drei die Angst vor Schmerzen, vor Verdursten und Ersticken – das, da waren wir uns einig, möge man uns ersparen. Mein Vater sagte klipp und klar: Er wolle nicht um jeden Preis länger leben, nicht, wenn er dafür unter ständigen, starken Qualen würde leiden müssen. Am Ende allerdings hat er viel ausgehalten, um doch noch ein bisschen länger bleiben zu können. Aber bei einem Punkt blieb er entschieden und fest bis zum Ende: Ein Leben ohne Lesen, das wäre für ihn kein Leben mehr. Als das Lesen nicht mehr ging, hat er für sich die Konsequenzen gezogen. Er war bis zuletzt bei klarem Verstand und konnte noch alles selbst entscheiden. Kurz vor seinem Tod verfügte er, dass er keine Antibiotika mehr erhalten wolle, auch eine künstliche Ernährung über eine sogenannte PEG , einen externen Zugang zum Magen, lehnte er ab.
Meine Mutter hatte erklärt, sie wolle nicht ohne Bewusstsein an Schläuchen hängen und nur mit Hilfe von Geräten weiterleben. Das hatte sie ebenso in ihrer Patientenverfügung festgehalten, wie den Satz, dass sie nicht wiederbelebt werden wolle. Zum Einsatz kam auch ihre Verfügung dennoch nicht. Sie starb sehr plötzlich und schnell, und als der
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