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Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)

Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)

Titel: Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Conrad
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bis 60 Prozent, sterben, wie mein Vater das in seinem Falle nannte, einen »Tod mit Ansage«. Sie erhalten die Diagnose einer tödlichen Krankheit, aber ihr Leben wird durch Therapien so lange wie möglich verlängert. Das wird in unserer vergreisenden Gesellschaft in Zukunft deutlich zunehmen – die Art von Tod also, von der die meisten hoffen, dass sie ihnen nach Möglichkeit erspart bleibe. 15
    Wir können nicht entscheiden, wann wir sterben müssen, und auch nicht, welche Todesart uns trifft, aber wir können – zumindest in einem gewissen Rahmen – das »Wie« beeinflussen.
    Strohhalm und Räderwerk
    Weil Krankheit stets nach Heilung schrie,
ersann der Mensch die Therapie.
Die kann durchaus ein Segen sein.
Doch gilt das durchweg? Leider nein.
Robert Gernhardt
    »Man gerät in ein Räderwerk, ohnmächtig gegenüber der Diagnose, den Vermutungen und Entscheidungen der Spezialisten. Der Kranke ist ihr Eigentum geworden.« So beschreibt die französische Schriftstellerin Simone de Beauvoir die Situation rund um den Tod ihrer Mutter in ihrem Buch Ein sanfter Tod 16 . Dieser Tod allerdings war alles andere als sanft, sondern ein wochenlanger »Wettlauf zwischen Tod und Qual«. Beauvoirs Mutter war zusammengebrochen und mit unklarer Diagnose ins Krankenhaus eingeliefert worden. Als klarwurde, dass die alte Dame an inoperablem Krebs erkrankt war und eigentlich keine Chance hatte, die nächsten Tage zu überstehen, baten die Töchter darum, sie in Ruhe sterben zu lassen. Aber ihre Bitte wurde ignoriert, stattdessen das medizinische Räderwerk in Gang gesetzt. Operation, Wiederbelebung, Infusionen. »Ich habe sie wieder zum Leben erweckt«, triumphierte der junge, ambitionierte Arzt, der sie behandelt hatte. Der Tochter, die ihn deswegen zur Rede stellte, erklärte er schroff: »Ich tue, was ich tun muss.« 17 Simone de Beauvoir wagte nicht zu fragen: »Warum?«
    Was sich 1963 in Frankreich ereignet hat, ist in vielen Ländern genau so passiert, auch in Deutschland. Mehr noch: Seitdem hat das Machbarkeitsdenken – nicht nur in der Medizin – ständig zugenommen. Auch die Patienten und ihre Angehörigen wollen ein Schicksal nicht mehr einfach hinnehmen und denken: Da muss es doch einen Weg geben, irgendein Mittel, eine Operation. Sie klammern sich an jeden Strohhalm, flehen die Ärzte um Hilfe an, auch da, wo es keine mehr gibt. Dann wirft oft genug das medizinische System die Motoren an, und das Räderwerk läuft. Bis irgendeiner es zum Halten bringt – oder auch nicht. Das war auch bei Hilde so, einer langjährigen Freundin meiner Eltern. Als bei ihr Eierstockkrebs im fortgeschrittenen Stadium festgestellt wurde und klar war, dass es keine Heilung mehr gab, fand sie sich überraschend schnell mit ihrem Schicksal ab. Ihr Mann dagegen bäumte sich auf, wollte sie nicht gehen lassen. Er schleppte sie von einem Facharzt zum nächsten, vom Krankenhaus zur Spezialklinik, bei jeder Koryphäe wurde er vorstellig. Immer hatte man hier oder da noch etwas Neues im Angebot, irgendeinen Strohhalm, an den man sich klammern konnte: eine gerade erst entwickelte Chemotherapie aus den USA , eine spezielle, punktgenaue Bestrahlungsmethode und dann doch die Operation, die der Arzt davor noch als völlig sinnlos abgelehnt hatte. Statt sich in der Geborgenheit der ihr vertrauten Umgebung langsam aus dem Leben zu verabschieden, verbrachte Hilde ihre letzten Monate in Operationssälen und PET -Scans, in Krankenhausbetten und auf grell ausgeleuchteten Klinikfluren.
    Ärzten fällt es verständlicherweise schwer, einer verzweifelten Patientin oder in diesem Falle Angehörigen, die flehend vor ihnen stehen, noch das letzte Fünkchen Hoffnung zu rauben. Auch Hildes Mann – selbst ein erfahrener Arzt – kämpfte hier einen Kampf, den seine Frau längst verloren hatte. »Ich will einfach nur noch meine Ruhe und ein kleines bisschen Zeit für mich«, hatte sie meiner Mutter einmal im Vertrauen gesagt. Ihrem Mann gegenüber schwieg sie. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, ihn verlassen zu müssen, und wollte ihm nicht die Hoffnung nehmen. Zweimal wurde sie halbtot ins Krankenhaus eingeliefert und ins Leben zurückgeholt – mit allem, was die Intensivmedizin zu bieten hat: Elektroschocks, Beatmungsgerät, Dauertropf und Magensonde. Bis zuletzt hat sie schreckliche Qualen gelitten, erzählten ihre Kinder später. Nach monatelangen intensivsten Therapien, bei der die Mediziner wirklich alle Register gezogen hatten, starb sie zu Hause. Die

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