Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)
man verloren hat. Der eine gerät außer sich in seiner Verzweiflung, der andere verschließt sich und lässt niemanden mehr an sich heran. Die einen arbeiten gegen ihre Trauer an, die anderen laufen vor ihr weg. Trauer ist widersprüchlich: Man will seine Ruhe haben, eigentlich, aber doch nicht allein gelassen werden. Man will, dass die anderen fragen, und ist gleichzeitig doch unfähig, über die eigenen Gefühle zu sprechen. Diese widersprüchlichen Signale setzen nicht nur einem selbst zu, sondern auch dem Umfeld. Jeder hat Angst davor, etwas »falsch« zu machen, missverstanden oder zurückgewiesen zu werden.
Nach dem Tod ihres kleinen Sohnes lag Ursula nur noch im Bett, aß nichts mehr, wollte niemanden sehen, mit niemandem reden. Sie quälte sich mit Schuldgefühlen und spielte die letzten Stunden mit Julian endlos in Gedanken durch. Hatte sie etwas versäumt, falsch reagiert, ihn nicht richtig beschützt? Mann und Sohn trieben in dieser Zeit in einer Art Paralleluniversum dahin. Während sie sich völlig abschottete, verletzte es sie aber gleichzeitig, dass ihr Mann nicht über seine Gefühle redete, der Sohn gar fröhlich zu sein schien. Trauerten die beiden denn gar nicht? Warum musste nur sie ständig weinen?
Erst später konnte Ursula begreifen, dass auch das, was Mann und Kind durchlebten, Trauer war, nur eben ganz anders als ihre eigene. Ihr Mann hatte sie schützen, sie mit seinen Gefühlen nicht zusätzlich belasten wollen. »Wir kamen uns in manchen Momenten sehr nah, und dann lagen plötzlich wieder Welten zwischen uns. Das waren schwere Krisen, die wir da durchlebt haben. Mal waren wir kurz davor, uns zu trennen, dann haben wir uns wieder berappelt. Aber es ist auch etwas auf der Strecke geblieben.«
Viele Eltern trennen sich nach dem Tod eines Kindes, weil sich jeder in seine eigene Trauerwelt zurückzieht, weil der andere diese riesige Wunde nicht heil machen kann, weil der eine dem anderen unterstellt: Du trauerst weniger als ich, du hattest unser Kind weniger lieb als ich, mit so einem Menschen kann ich nicht mehr zusammenleben.
Aber nicht nur Erwachsene trauern unterschiedlich, auch Kinder tun das, und zwar auf ihre ganz eigene Weise. Der achtjährige Marco wollte nur fünf Tage nach dem Tod seines kleinen Bruders unbedingt Silvesterkracher und Raketen abfeuern. Seine Mutter war fassungslos: Wie konnte er spielen und lachen, ganz so als wäre nichts passiert? Kinder springen in eine Art »Trauerpfütze« – dieses Bild benutzen Kinderpsychologen, um den kindlichen Umgang mit Tod und Verlust zu verdeutlichen. Während Erwachsene ein Meer der Trauer durchqueren müssen, springen Kinder in diese Trauerpfützen. Mal sind sie klein und tief, dann wieder groß und flach. Mal stolpern die Kinder hinein und werden – im übertragenen Sinn – pitschnass. Dann wieder spritzt es nur ein bisschen, und sie gehen hindurch, fast ohne es zu merken.
Ursula war manchmal hilflos, wie sie mit Marco über den Tod seines Bruders sprechen, wie sie Zugang zu seinen Gefühlen finden sollte. Sie hat mir kleine Zeichnungen von damals gezeigt und ein Blatt, auf dem in der ungelenken Kinderschrift des Jungen Sätze stehen wie: »Ich bin traurig. Ein Platz ist frei. Es ist so still. Wir sind nur noch zu dritt.«
Und ein von ihm gemaltes Bild zeigt ein schreckliches Ungeheuer. Darunter steht: »Der Tod ist ein schwarzer Fleck, in dem alles untergeht.« Marcos Schmerz und die Angst sind darin noch heute, so viele Jahre später, spürbar.
Kinder trauern in einer Radikalität, die Angst machen kann, aber nur für einen Moment, dann springen sie aus der Trauerpfütze wieder heraus, schütteln sich und spielen Lego oder Barbie und haben ihr großes Unglück wieder vergessen. Zum Glück, denn sonst würden ihre kleinen Seelen das nicht aushalten können. Kinder fühlen im Augenblick und machen sich die Tragweite des Verlustes nicht bewusst. Veränderung gehört zu ihrem Leben, alles ist noch neu, sie können sich leichter darauf einstellen. Das heißt nicht, dass ein solches Erlebnis nicht lange nachwirken, selbst ein Trauma daraus entstehen kann.
In seinem autobiographischen Roman Eine Geschichte von Liebe und Finsternis erzählt der israelische Schriftsteller Amos Oz ganz am Ende vom Selbstmord seiner Mutter und vom Umgang mit diesem Verlust. Er beschreibt die »Shiwa«, die im Anschluss an das Begräbnis von Juden zelebrierte Trauerwoche. Sieben Tage lang konzentrieren sich die nahen Angehörigen dann nur auf ihre
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