Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)

Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)

Titel: Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Conrad
Vom Netzwerk:
Trauer, sitzen auf Stühlen und schauen vor sich hin. Die Tür des Hauses steht Tag und Nacht offen. Es kommen Verwandte, Gemeindemitglieder, Bekannte und versorgen die Trauernden mit Essen, Beileid, Zuspruch, Erinnerungen an den Verstorbenen oder sie sind einfach nur da, damit die Hinterbliebenen nicht alleine sind. Oz schildert dieses Ritual und auch, in der Zeit danach, die verschiedenen Phasen der Trauer. Er erzählt von der Trauer, die Menschen voneinander entfernt und Familien entzweit, von lähmender Lethargie, aber auch von unbändiger Wut und Todessehnsucht. Und davon, wie die Trauer ihn verändert hat. Sein Leben lang hat er von seiner Mutter und von dieser Zeit nie gesprochen – bis zum Schreiben dieser Seiten.
    Als seine Mutter starb, war Amos Oz zwölf Jahre alt. Als er seine Erinnerungen aufschrieb, 62. Noch fünfzig Jahre später spürt man die Verstörung und Verzweiflung des Kindes von damals. Wäre er damals bei ihr gewesen, so schreibt er, in dem Zimmer, in dem sich die Mutter das Leben nahm, »hätte ich ihr bestimmt mit aller Kraft zu erklären versucht, warum sie das nicht tun dürfe. Und wenn es mir nicht gelungen wäre, es ihr zu erklären, hätte ich alles getan, um ihr Mitleid zu erregen, dass sie sich ihres einzigen Sohnes erbarme. Ich hätte geweint und gefleht, ohne jegliche Scham, hätte ihre Beine umklammert, und vielleicht hätte ich mich auch ohnmächtig gestellt oder mich geschlagen und gekratzt bis aufs Blut (…) Oder ich wäre wie ein Mörder über sie hergefallen, ohne Zögern hätte ich eine Vase gepackt und sie auf ihrem Kopf zertrümmert. Oder hätte sie mit dem Bügeleisen geschlagen, das auf einem Regal in der Zimmerecke stand. Oder hätte ihre Schwäche ausgenutzt und mich auf sie geworfen, ihre Hände hinter dem Rücken gefesselt und ihr all ihre Pillen weggenommen, all ihre Tabletten, Dragees, Lösungen, Essenzen und Sirups, und hätte sie allesamt vernichtet. Aber sie haben mich nicht dort sein lassen. Nicht einmal zur Beerdigung haben sie mich gehen lassen.« 33
    Die Trauer kann also ein Begleiter sein für lange Zeit …
    Auch Marco trägt den Tod seines Bruders bis heute mit sich herum. Über zwölf Jahre ist das jetzt her, Jahre, in denen er immer wieder die Stunde durchlebt, in der der Notarzt im Wohnzimmer um das Leben Julians kämpfte und er am Fenster stand, auf die Felder hinaus schaute und sich ganz elend fühlte. Plötzlich hatte er an all das denken müssen, das er dem kleinen Bruder angetan hatte: an Streitereien, bei denen er ihm Spielsachen einfach weggenommen oder an das eine Mal, als er ihn über den Teppichboden ins Nachbarzimmer geschleift hatte. Danach waren Julians Knie ganz aufgeschürft gewesen. Er hatte sich nicht mehr von ihm verabschieden, ihn nicht um Verzeihung bitten können. Das hat Marco lange gequält. Andererseits machte er seinen Bruder verantwortlich dafür, dass er anders war als die anderen – ängstlicher, vorsichtiger, zurückhaltender. Der, dessen Bruder gestorben war, mit dem man Mitleid haben musste, der immer so ernst und traurig schaute. »Manchmal habe ich damals gedacht: Wenn er nicht gewesen wäre, hätte alles normal sein können.« Andererseits ist Marco heute aber auch dankbar für alles, was er durch seinen kleinen Bruder gelernt und erfahren hat – für dessen inneres Leuchten und die Fröhlichkeit etwa, die der Junge ausstrahlte, trotz all der Schmerzen, die er ertragen musste. Rückblickend sieht Marco den langen und oft quälenden Prozess des Begreifens und Trauerns auch als etwas, woran er gewachsen sei. »Ich habe mich selber sehr gut kennengelernt, ich verstehe, warum ich bin, wie ich bin«, sagt Marco. Die Verzweiflung, in die Julians Tod die Familie gestürzt hat, habe ihm emotionale Bereiche erschlossen, die er sonst – wenn überhaupt – wohl erst viel später kennengelernt hätte. Und: Diese Erfahrungen hätten ihm ein besonderes Gespür für andere gegeben, gerade, wenn es um Trauer, Leid oder Verlust gehe, sagt er. »Ich interessiere mich für Menschen und für das, was sie bewegt.« Inzwischen studiert er Medizin und möchte Psychiater werden. Er freut sich auf sein Leben, aber die Trauer, das weiß Marco, wird darin immer einen festen Platz haben.
    *
    Wie lange »darf« diese Zeit des Trauerns dauern, wie lange ist sie »normal«?
    Diese Frage stellen sich viele Hinterbliebene. Die Vernunft sagt oft: Es war doch gut so, besser für ihn, er muss jetzt nicht mehr leiden, sie war doch sowieso dement,

Weitere Kostenlose Bücher