Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)
kein feuchtfröhlicher Zug durch die Gemeinde mehr, kein nächtliches Versacken in irgendeiner Kneipe, keine Rucksacktour durch Nepal oder Städtetrip nach London. Statt es sich abends mit einem Buch gemütlich auf dem Sofa zu machen, ist man mit einem Mal umgeben von Windeln und Spucktüchern, Schnullern und Milchfläschchen. Man tut nachts kaum noch ein Auge zu und verbringt die Tage im Zustand von Übermüdung und permanenter Alarmbereitschaft, immer gewappnet, dass das Baby zur nächsten Brüll-Session anhebt.
Etwas zu bekommen ist also im Grunde ganz ähnlich, wie etwas zu verlieren. Wir müssen unser gesamtes Leben neu ordnen, müssen uns verändern. Jedes Ende, jeder Neuanfang zwingt uns, unseren Standort neu zu bestimmen. In diesem Sinne sind Leben und Sterben eine permanente Einladung, eine Aufforderung, sich zu wandeln.
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Wenn ein Elternteil stirbt, ist das ein radikaler Schnitt. Denn dann spüre ich, dass ich als Nächstes an der Reihe bin. Ich bin nicht mehr geschützt, wie es Hilde Domin in einem Gedicht über den Tod ihrer Mutter beschreibt:
Eine alte Frau, die vor uns stand,
war unser Winterschutz,
unser Julilaub,
unsere Mutter,
deren Tod uns entblößt.
Man fühlt sich nackt ohne diesen Schutzwall, den die Generation unserer Eltern vor uns errichtet hatte und der mit ihrem Tod einbricht. Die Menschen, die immer bei uns waren, sind nicht mehr da, und plötzlich bin ich ein anderer, nicht mehr die Tochter oder der Sohn. Der Status ändert sich. Der Tod verändert gewohnte, oft schon lebenslang bestehende Konstellationen und zwingt uns und unsere Umgebung, unsere Bezugspunkte zu ändern. 32
Ein System, dessen Gerüst zusammengebrochen ist, muss sich neu organisieren, die bestehende Ordnung ist durcheinandergeraten. Die Welt quillt in solchen Augenblicken aus den Kästchen, in denen wir sie so übersichtlich und fein säuberlich verstaut haben. Nichts scheint mehr zu passen. Die Veränderung einer Konstante zieht weitere Veränderungen nach sich. Eine solche Neuorientierung kann für die Betroffenen sehr schmerzhaft sein. Alles muss neu geordnet, die Verantwortung neu verteilt werden. Das ist anstrengend und beunruhigend. Familienzerwürfnisse sind nach Todesfällen keine Seltenheit. Konflikte, Eifersucht, Familiengeheimnisse oder Streit ums Erbe können völlig eskalieren. Es kann aber auch sein, dass die Neuorientierung Menschen wieder zusammenführt, die sich fremd geworden waren. Wandel ist ein Phänomen, das jedem lebendigen System zu eigen ist: Ändert sich ein Teil, muss sich alles ändern.
Ein wichtiger Teil dieses Prozesses ist das Trauern. Trauer zuzulassen fällt vielen Menschen schwer. Sie ist ein Gefühl, das man nicht kontrollieren, das uns in ganz unterschiedlichen Erscheinungsformen erfassen kann. In manchen Augenblicken rechnet man mit ihr, dann wieder schleicht sie sich unvermittelt an.
Ich erinnere mich, wie ich mit meinem Bruder die Wohnung unseres Vaters ausgeräumt habe. Es war belastend und traurig und unglaublich viel Arbeit. Jeden einzelnen Gegenstand mussten wir in die Hand nehmen und entscheiden: Wovon trennen wir uns, was wollen wir behalten? Es war, als lösten wir das Leben und die Vergangenheit unserer Eltern auf – und ein Stück weit unsere eigene. Unsere Eltern hatten alles Mögliche von uns aufgehoben: kleine vollgekritzelte Zettelchen aus der Zeit, als wir gerade schreiben lernten, selbstgemalte Bilder, eine uralte Einladung zu einem Familienfest oder die Briefe und Postkarten, die wir im Laufe der Jahrzehnte an sie geschrieben haben. Jedes Mal ein kleiner Aufschrei, wenn einer von uns etwas gefunden hat, und dann die Frage: »Weißt du noch?«
Diese Tage, die wir mit all den Dingen verbrachten, die unsere Eltern so lange Zeit begleitet und umgeben hatten, auch sie waren eine Zeit des aktiven Trauerns, des Loslassens. Aber auch eine Zeit des Neu-Erinnerns, des Bewahrens. Wir haben damals beide verschiedene Dinge mit nach Hause genommen. Ab und zu fällt mir noch ein Zettel mit der Handschrift meines Vaters oder meiner Mutter entgegen, wenn ich in einem ihrer Bücher blättere, oder in einem der alten Ordner nach irgendetwas suche. Es ist jedes Mal von neuem ein Abschiednehmen.
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Trauer ist etwas sehr Individuelles und nicht immer nur ein sanftes, zurückgezogenes Leiden. Sie kann rabiat und verletzend sein, aggressiv und voller Wut. Man möchte die Zeit anhalten, weil einen jede Minute, jede Stunde, jeder Tag weiter von dem Menschen zu entfernen droht, den
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