Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)
was hätte sie vom Leben noch gehabt? Aber Kopf und Gefühl ziehen nicht immer am gleichen Strang, und der Verlust, diese »Amputation«, verursacht auch nach Monaten, nach einem Jahr oder noch viel länger unsagbaren Schmerz.
Früher gab es Vorgaben, Rituale, die Trauernde beileibe nicht nur einengen oder gängeln, sondern sie vor allem stützen und schützen sollten. So war etwa ein zeitlicher Rahmen, gewissermaßen als »Schonfrist«, eingeräumt: das Trauerjahr. Man musste nicht schon nach ein paar Wochen wieder zur Tagesordnung zurückkehren und funktionieren, sondern hatte Zeit. In diesem Jahr konnten die Hinterbliebenen den Zyklus der Jahreszeiten und alle Festtage durchleben, Weihnachten, Silvester, die Geburtstage, alles einmal, das erste Mal, ohne den Verstorbenen überstehen.
Auch die schwarze Trauerkleidung sollte Hilfestellung bieten und deutlich machen: Dieser Mensch lebt in einem Ausnahmezustand, er ist verletzlich, wir müssen ihm oder ihr also mit Behutsamkeit und Respekt begegnen. Gleichzeitig war das Schwarz eine Möglichkeit, der eigenen Gemütsverfassung Ausdruck zu verleihen. Das dunkle äußere Erscheinungsbild spiegelte den inneren Zustand wider. Heute tragen viele nur noch bei der Beerdigung schwarz und manche noch nicht einmal da. Sie fühlen sich kujoniert und bevormundet durch einen Brauch, der ihnen sinnentleert erscheint. Dadurch aber nehmen sie in Kauf, dass sie in ihrer Trauer unsichtbar für andere werden.
Was aber kann man tun, wenn alte Rituale keine Bedeutung mehr für uns haben?
»In unserer individualisierten Gesellschaft muss letzten Endes jeder für sich herausfinden, was zu ihm und zu seiner Gefühlslage passt«, sagt die Hospizmitarbeiterin Barbara Schoppmann, die oft auch Angehörige in ihrer Trauer begleitet. Dabei hat sie häufig erlebt, dass Trauernde das Gefühl haben: »Wie sie’s auch machen, machen sie’s falsch.« Trauern sie zu lange, dann meint das Umfeld, es sei doch endlich an der Zeit, sich wieder zusammenzureißen und nach vorn zu schauen. Gehen sie auf ein Fest, lachen sie in fröhlicher Runde, dann sind die anderen betreten – wie kann sie nur, so lange ist das doch noch gar nicht her? Aber was Außenstehende an der Oberfläche sehen (oder zu sehen glauben), hat nicht notwendigerweise etwas damit zu tun, was sich im Innern abspielt.
Gian Domenico Borasio hat einen ungewöhnlichen, aber plakativen Vergleich gewählt, um zu beschreiben, was die Trauer in unserem Leben bewirkt. Es sei ein bisschen wie beim Schweizer Käse, sagt er: Mit seiner Reifung entstünden im Laufe der Zeit immer mehr und immer größere Löcher, die auch ein Zeichen seiner Qualität seien. Ein Schweizer Käse ohne Löcher wäre kein Schweizer Käse, jedenfalls kein guter. »Mit den Menschen verhält es sich so ähnlich: Je älter wir werden, desto mehr und größere Verlusterlebnisse sammeln sich in unserer Lebensgeschichte an – beileibe nicht nur Todesfälle. Jedem dieser Verluste seinen Platz in unserem Leben zu geben, das entstandene Loch als Teil unserer Identität zu akzeptieren und mit den Erinnerungen weiterzuleben, ist ein Teil dessen, was persönliches Wachstum und menschliche Reifung ausmacht.« 34
Jedes Ende ist, wie jeder Neuanfang, ein Abschied von Vertrautem, Gewohntem, das uns Sicherheit und Halt gegeben hat. Deshalb sind Abschiede immer auch Gelegenheit, sich auf Verlust vorzubereiten, darauf, irgendwann für immer verlassen zu werden oder selber zu verlassen.
Abschiedsrituale
Es muss feste Bräuche geben. (…) Es ist das,
was einen Tag vom andern unterscheidet,
eine Stunde von den anderen Stunden.
Antoine de St.-Exupéry, Der kleine Prinz
Als Julian gestorben war, an Weihnachten, zu Hause, umgeben von seiner Familie, da bestanden die Eltern darauf, nicht gleich den Bestatter zu rufen, sondern das Kind noch eine Nacht bei sich zu behalten. Er blieb auf dem Sofa liegen, auf dem er gestorben war. Sie zogen ihm seine Lieblingssachen an – ein geringeltes T-Shirt und eine blaue Strickjacke –, legten ihm ein Goldkreuzchen von den Großeltern um und deckten seinen kleinen leblosen Körper zu. »Aber obwohl er schon kalt war, sich seine Finger eisig angefühlt haben, war da eine warme Atmosphäre, und wir haben uns ihm ganz nah gefühlt«, erzählt seine Mutter.
Und dann legten sie all die Dinge um ihn herum, die sie ihm mitgeben wollten: seinen »Moro«, sein Spielpferd, das er heiß und innig liebte, und »Stupsi«, seinen Kuschelhasen.
Seine Eltern und
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