Sterben für Anfänger: Wie wir den Umgang mit dem Tod neu lernen können (German Edition)
sein Bruder sind, wir erinnern uns, in dieser Nacht bei ihm geblieben, auf einem Matratzenlager, das sie neben ihm im Wohnzimmer bereitet hatten. Julian war noch ein paar Stunden zu Hause und er war nicht allein. Und für seine Familie waren diese Stunden nötig, um in der Realität anzukommen, um zu begreifen, dass er ihre Welt und ihr Leben für immer verlassen hatte, dass sie nie mehr sein Lachen oder seine Stimme hören würden.
Intuitiv hatte die Familie etwas getan, was lange Zeit beim Abschied von Toten selbstverständliches Ritual war: Sie hielt Totenwache. Früher war es Brauch, dass sich die Familie und weitläufigere Verwandtschaft, Freunde und Nachbarn im Haus des Toten versammelten, um gemeinsam Abschied zu nehmen. Nach der Totenwaschung wurden dem Verstorbenen die Augen geschlossen, die Hände gefaltet. Häufig wurden die Uhren angehalten und die Spiegel verhängt. Die Zeit sollte stillstehen und keine Eitelkeit von der Trauer um den Toten ablenken. Auch Aberglaube spielte hier wohl eine Rolle. So sollte der Tod nicht zu lange im Haus verweilen und sich die Seele beim Verlassen des Körpers nicht im Spiegel verfangen. Es wurde gebetet, im Mittelalter am Bett des Toten sogar gesungen und gescherzt, ja manchmal wohl lebhaft gefeiert und getrunken. 35
Der Verstorbene sollte bis zuletzt Teil der Gemeinschaft sein, im vertrauten Kreis der Menschen bleiben, die ihn schon im Leben begleitet hatten. Heute findet man die Totenwache nur gelegentlich noch in ländlichen Regionen und ein solches Gemeinschaftsritual allenfalls noch beim sogenannten »Leichenschmaus«, der Feier nach der Beisetzung, wenn die Trauergesellschaft bei trockenem Streuselkuchen zusammensitzt, sich alte Geschichten erzählt und an den Verstorbenen erinnert. Dann wird auch wieder gelacht, und die Anspannung löst sich allmählich. Dieses Beisammensein entspricht dem Bedürfnis der Hinterbliebenen, sich in ihrer Trauer gegenseitig zu stützen, die neue Wirklichkeit anzunehmen und ganz langsam zu Normalität und Alltag zurückzufinden.
Eine Totenwache, wie ich sie als Kind bei Frau Kapp erlebt hatte, gab es für meine Eltern nicht. Immerhin aber habe ich noch eineinhalb Stunden am Krankenhausbett meines verstorbenen Vaters sitzen können und habe ihn in dieser Zeit unverwandt angeschaut. War das noch mein Vater? Oder war es nur noch seine Hülle? Ich konnte beobachten, wie sich sein Gesicht veränderte, wie er von Minute zu Minute mehr entrückte. Für mich war diese Zeit wichtig, um überhaupt anzufangen zu begreifen, was geschehen war.
Beim Tod meiner Mutter, der so plötzlich und schnell vonstattengegangen war, kam ich zu spät, aber das Pflegepersonal war rührend und hat uns alle Zeit gelassen, die wir brauchten, um Abschied zu nehmen. Sie blieb noch einen ganzen Tag in ihrem Zimmer aufgebahrt und lag in ihrem Bett, als würde sie schlafen, die Gesichtszüge ganz friedlich und entspannt. Es gab uns die Gewissheit, dass sie einen schmerz- und angstfreien Tod gehabt hatte.
Inzwischen ist die Totenwache, diese alte Tradition des Abschiednehmens, weitgehend vergessen. Weil die meisten heute nicht mehr zu Hause sterben, verschwindet der Verstorbene in der Regel schon kurz nach seinem Tod in der Obhut eines Beerdigungsinstituts – der Tote wird professionellen Händen übergeben, bevor Angehörige und Freunde die Gelegenheit haben, ihn noch einmal zu sehen. In unserer Gesellschaft ist es heute gewünscht, den Tod dem Blick der Lebenden rücksichtsvoll zu entziehen, die Leiche diskret zu »entsorgen«. Immer häufiger wünschen sich Menschen, die alleine sind, eine anonyme Beisetzung, und dann sind Totenschein und Sterbeurkunde oft die letzten und einzigen Belege dafür, dass ein Mensch nicht mehr da ist. Sie sind der bürokratische Nachweis für eine ordnungsgemäße Abmeldung aus dem Leben. Und vollzogen wird diese Kündigung von Bestattungsunternehmen, die gelegentlich eine eher muffige Atmosphäre verströmen. Hier wird organisiert und arrangiert, werden Formalitäten erledigt, für die Hinterbliebene in den wenigen Tagen bis zur Beerdigung verständlicherweise keine Kraft und keinen Sinn haben. Oft bleibt dabei aber auch die Chance zu einer aktiven Trauerbewältigung auf der Strecke. Diese Schleusenzeit zwischen Tod und Beisetzung sollte eigentlich die Gelegenheit bieten, den Abschied zu gestalten und emotionale Erfahrungen zu machen, die später nicht mehr nachgeholt werden können.
Bei meinen Recherchen für dieses Buch habe ich
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