Sterben in Rom
wie der Mörder sich auf Tanja gestürzt hatte .
Ihre Eltern hatten recht gehabt, dachte Sebastian. Er hatte nicht auf ihre Tochter achtgeben können. Sie wollten sie nicht mit ihm nach Italien fahren lassen. Er hatte ihnen versprochen, auf Tanja aufzupassen wie auf seinen Augapfel. Seine rührenden Beteuerungen hatten die Grabenstetts - im Grunde ihres Herzens rührende, schon ältere Leute mit etwas veralteten Anschauungen - schließlich erweicht.
Ob sie schon wußten, daß ihre Tochter ermordet worden war? Weil er, Sebastian, sein Wort nicht gehalten hatte?
Er wollte ihnen nie mehr gegenübertreten müssen. Sie würden ihn hassen, verachten. Vielleicht noch mehr als Tanjas eigentlichen Mörder.
Aber er würde es tun müssen. Nicht, weil ihn etwas oder jemand dazu zwingen würde, sondern nur, weil er es mußte. Weil er sonst nie mehr in den Spiegel würde sehen können.
Das würde er ohnehin nie mehr tun können, davon war er überzeugt. Er würde nicht mehr in das Gesicht eines Mannes sehen wollen, der schuld war am Tod eines Mädchens, das sein Leben noch vor sich gehabt hatte. Ein Leben, das es vielleicht mit ihm hatte verbringen wollen. Und wie hatte er ihr diesen Wunsch gedankt ...?
Er wünschte, der Mörder - dieses unmögliche Monster! - hätte ihn nicht verschont. Wer immer der Mann gewesen war, der die Bestie fortgeschleift hatte, Sebastian hätte gewollt, er Mann wäre erst später gekommen. Vielleicht hätte eine Minute genügt - »Sterben ...«, flüsterte Sebastian. »Wenn ich ... nur tot ... wäre ...«
Verwirrt öffnete er die Augen etwas weiter, als er merkte, daß er nicht mehr allein war. Seine Sicht wurde damit jedoch nicht besser.
Nebel aus dem Nichts schienen den Raum zu füllen. Sie hüllten die Gestalt neben seinem Bett ein, ließen ihre Konturen verschwimmen und formten sie ständig neu, nur um sie gleich wieder aufzulösen.
»Schwester ...?« röchelte Sebastian. Er glaubte langes Haar zu er-kennen.
Sein Mund war trocken, und er mußte dreimal ansetzen, ehe er um ein stärkeres Beruhigungsmittel bitten konnte.
»Ich habe etwas Besseres«, entgegnete die Frau. Ihre Hände berührten Sebastians Gesicht, erst sanft, dann fest.
Reißender Schmerz. Ganz kurz nur, aber lange genug, damit er noch realisieren konnte, daß sein sehnlichster Wunsch in Erfüllung ging.
Nur schlug dieser Wunsch in dem Moment, da er sich erfüllte, ins Gegenteil um!
In diesem Bruchteil einer Sekunde wollte Sebastian von Soettingen leben - - und starb.
*
Der Verlockung zu widerstehen, die Zähne in die Halsschlagader des jungen Burschen zu stoßen, hatte Titiana einiges abverlangt. Aber sie hätte damit aller Vorsicht zuwider gehandelt, die sie sich auferlegt hatten. Zudem wäre ihre Aktion damit hinfällig geworden - denn was hätte es genutzt, den Zeugen auf ewig zum Schweigen zu bringen, wenn sie mit seinem Tod doch nur eine neue Spur hinterließ, die auf das Wirken von Vampiren hindeutete?
Sie durften nicht auffallen, heute ebensowenig wie in all den Jahren, die sie durch die Welt gezogen waren. Solange jedenfalls nicht, bis ihre Macht endlich auf ein sicheres Fundament gestellt war. Der erste Schritt in diese Richtung war mit ihrer Rückkehr nach Rom immerhin schon getan.
So unbemerkt, wie sie in das Krankenzimmer eingedrungen war, verließ Titiana es auch wieder. Natürlich begegnete ihr auf den Gängen Pflegepersonal. Aber sie sorgte dafür, daß niemand sich an sie erinnern würde. Ein fester Blick in die Augen des Betreffenden, ein paar ruhige Worte genügten.
Trotzdem verzichtete die Vampirin darauf, den kürzesten Weg über die Hauptflure zu gehen. Über die Notfalltreppen schlich sie hinab, nur einmal suchte sie noch Kontakt zu einem Angehörigen des Personals, um eine Auskunft einzuholen.
»Danke schön«, flötete sie dem jungen Mann zu, und als er sich wortlos abwandte, versetzte sie ihm noch übermütig einen Klaps auf die knackige Kehrseite.
Titiana war bester Laune, Tremors neuerlichem Ausbruch zum Trotz und obwohl sie Tacitus für dessen Unachtsamkeit vorhin noch am liebsten an die Gurgel gegangen wäre. Nun aber war der Zwischenfall vergessen, mögliche Folgen abgewendet - - und sie war wieder zu Hause!
Nach zehn Jahren des Vagabundierens.
Nach zehn Jahren steter Vorsicht.
Sie hatte diese Zeit, dieses Leben gehaßt. Obschon sie hätte froh sein müssen, daß sie es hatten führen dürfen. Denn es hatte seinerzeit nicht viel gefehlt und sie hätten ihr Leben im Kampf gegen die
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