Sterben: Roman (German Edition)
auf dem Arm, und von dem Reporter selbst, der vor dem Hintergrund eines wogenden Meeres sprach.
Als der Bericht vorbei war, ertönte im Zimmer die Stimme meines Vaters, danach Gelächter. Das Schamgefühl, das sich in mir ausbreitete, war so stark, dass ich nicht mehr klar denken konnte. Mir schien, als wäre mein Inneres vollkommen leer. Die Kraft dieser plötzlichen Scham war in meiner Kindheit nur vergleichbar mit der intensiven Angst, die ich manchmal empfand, und dem Jähzorn natürlich, und allen gemeinsam war, dass ich selbst wie ausradiert wurde. Nur dieses eine Gefühl zählte. Als ich mich umwandte und in mein Zimmer zurückging, nahm ich deshalb nichts wahr. Ich weiß, das Fenster an der Treppe muss so dunkel gewesen sein, dass sich das Bild des Flurs darin spiegelte, ich weiß, die Tür zu Yngves Zimmer muss genauso zu gewesen sein wie die zum Schlafzimmer meiner Eltern und die zum Bad. Ich weiß, der Schlüsselbund meiner Mutter muss aufgefächert auf dem Telefontischchen gelegen haben wie eine Art ruhendes kleines Fabelwesen mit seinem Kopf aus Ton und dem Gewimmel aus Metallbeinen, ich weiß, die kniehohe Keramikvase mit getrockneten Blumen und Stroh muss daneben auf dem Fußboden gestanden haben, ohne irgendeine Verbindung zu dem synthetischen Stoff des Teppichbodens. Aber ich sah nichts, hörte nichts, dachte nichts. Ich ging in mein Zimmer, legte mich ins Bett und löschte das Licht, und als die Dunkelheit mich umschloss, holte ich so tief Luft, dass mein Atem anfing zu zittern, während sich die Bauchmuskeln gleichzeitig spannten und die wimmernden Töne herauspressten, die so laut waren, dass ich sie in den weichen und schon bald durchnässten Stoff des Kissens lenken musste. Es half so, wie es einem half, sich zu übergeben, wenn einem übel war. Noch lange, nachdem die Tränen versiegt waren, lag ich schluchzend im Bett. Auch das tat gut. Als die wohltuende Wirkung verraucht war, drehte ich mich auf den Bauch, legte den Kopf auf den Arm und schloss die Augen, um zu schlafen.
DA ICH HIER SITZE UND DIES SCHREIBE, sind über dreißig Jahre vergangen. Im Fenster vor mir sehe ich vage den Widerschein meines Gesichts. Abgesehen von den leuchtenden Augen und der Partie unmittelbar darunter, die matt ein wenig Licht reflektiert, liegt die gesamte linke Hälfte im Schatten. Zwei tiefe Furchen durchziehen meine Stirn, eine tiefe Furche führt auf jeder Wange nach unten, jede von ihnen mit Dunkelheit gefüllt, und wenn die Augen so ernst sind und stieren und die Mundwinkel nach unten zeigen, ist es völlig ausgeschlossen, dieses Gesicht nicht düster zu finden.
Was hat sich darin eingebrannt?
Heute ist der 27. Februar 2008. Es ist 23.43. Ich, der ich dies schreibe, Karl Ove Knausgård, wurde im Dezember 1968 geboren und bin folglich im Augenblick der Niederschrift 39 Jahre alt. Ich habe drei Kinder, Vanja, Heidi und John, und bin in zweiter Ehe mit Linda Boström Knausgård verheiratet. Alle vier schlafen in den Zimmern ringsum, in einer Wohnung in Malmö, wo wir seit anderthalb Jahren leben. Mit Ausnahme einiger Eltern von Kindern in Vanjas und Heidis Kindertagesstätte kennen wir hier niemanden. Wir vermissen deshalb nichts, jedenfalls ich nicht, denn die Gesellschaft anderer Menschen gibt mir ohnehin nichts. Ich sage nie, was ich wirklich denke, nie, was ich wirklich meine, sondern passe mich unweigerlich meinem jeweiligen Gesprächspartner an und tue so, als würde es mich interessieren, was er oder sie erzählt, es sei denn, ich trinke, denn dann verfalle ich meist in das andere Extrem, um anschließend voller Furcht zu erwachen, die Schwelle des Erlaubten überschritten zu haben, eine Angst, die mit den Jahren immer größer geworden ist und mittlerweile wochenlang anhalten kann. Wenn ich trinke, habe ich zudem Blackouts und verliere völlig die Kontrolle über mein Tun, das oft verzweifelt und idiotisch ist, manchmal aber auch verzweifelt und gefährlich. Deshalb trinke ich nicht mehr. Ich will nicht, dass jemand an mich herankommt, ich will nicht, dass jemand mich sieht, und so ist es mittlerweile auch: Niemand kommt an mich heran, und niemand sieht mich. Das muss sich in mein Gesicht eingebrannt haben, das muss es so steif und maskenhaft gemacht haben, wodurch es mir kaum möglich ist, es mit mir selbst in Verbindung zu bringen, wenn ich auf der Straße in einer Fensterscheibe zufällig darauf stoße.
*
Das Einzige, was im Gesicht nicht altert, sind die Augen. Sie sind am Tag unserer Geburt
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