Sterben: Roman (German Edition)
Vergangenheit zu denken, fast schon krankhaft viel Zeit, wie ich heute erkennen muss, und deshalb Marcel Prousts Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit nicht nur las, sondern regelrecht verschlang, ist die Vergangenheit in meinem Denken heute kaum noch gegenwärtig. Es liegt wohl vor allem an den Kindern, nehme ich an, daran, dass mein Leben mit ihnen hier und jetzt allen Raum einnimmt. Selbst die unmittelbare Vergangenheit wird von ihnen verdrängt: Wenn Sie mich fragen, was ich vor drei Tagen gemacht habe, erinnere ich mich nicht. Wenn Sie mich fragen, wie Vanja vor zwei Jahren war, Heidi vor zwei Monaten, John vor zwei Wochen, erinnere ich mich nicht. Es passiert viel im kleinen, alltäglichen Leben, aber alles ereignet sich beständig innerhalb des Gleichen, und mehr als alles andere hat das meine Auffassung von der Zeit verändert. Sah ich sie früher als eine Strecke, die zurückgelegt werden muss, mit der Zukunft weit voraus am Horizont, gerne glänzend und keinesfalls langweilig, ist sie nun in ganz anderer Weise mit dem Leben im Hier und Jetzt verwoben. Wollte ich ein Bild dafür finden, wäre es das von einem Boot in einer Schleuse: Ebenso langsam wie unausweichlich wird das Leben von der Zeit angehoben, die stetig von allen Seiten hereinrieselt. Abgesehen von Details ist alles immer gleich. Und mit jedem neuen Tag wächst die Sehnsucht nach dem Augenblick, in dem das Leben den Rand erreicht, nach dem Augenblick, in dem sich die Tore öffnen und es wieder vorwärtsgleitet. Gleichzeitig erkenne ich, dass gerade die Wiederholung, das Hermetische, das Unveränderliche notwendig ist und mich schützt, denn die wenigen Male, die ich es verlasse, kehren meine alten Qualen zurück. Plötzlich werde ich wieder von allen möglichen Grübeleien geplagt, was gesagt, gesehen, gedacht wurde, irgendwie hineingeschleudert in dieses unkontrollierbare, unfruchtbare, oftmals demütigende und auf Dauer zerstörerische Feld, in dem ich so viele Jahre gelebt habe. Die Sehnsucht ist dort ebenso stark wie hier, der Unterschied besteht jedoch darin, dass sich das Ziel der Sehnsucht dort verwirklichen lässt, hier jedoch nicht. Hier muss ich mir andere Ziele stecken und mich mit ihnen zufriedengeben. Es ist die Kunst zu leben, von der ich spreche. Auf dem Papier ist das alles kein Problem, auf ihm kann ich mit Leichtigkeit zum Beispiel ein Bild von Heidi heraufbeschwören, wie sie um fünf Uhr morgens aus ihrem Gitterbettchen klettert und in der Dunkelheit durch die Wohnung tapst, um in der nächsten Sekunde das Licht anzumachen, sich vor mich zu stellen, der ich im Halbschlaf zu ihr hochblinzele, und »Küche!« zu sagen. Ihre Sprache ist noch idiosynkratisch, die Worte haben eine andere als ihre übliche Bedeutung, und »Küche« heißt bei ihr Müsli und Sauermilch mit Blaubeergeschmack. Im gleichen Stil heißen Kerzen »Hoch soll sie leben!«. Heidi hat große Augen, einen großen Mund und großen Appetit und ist ein in jeder Hinsicht gieriges Kind, aber die robuste und unverletzliche Freude, in der sie während ihrer ersten anderthalb Jahre lebte, ist in diesem Herbst, seit Johns Geburt, von anderen, bislang unbekannten Gefühlsregungen in den Schatten gestellt worden. In den ersten Monaten nutzte sie jede sich ihr bietende Gelegenheit, um zu versuchen, ihn zu verletzen. Kratzspuren in seinem Gesicht waren eher die Regel als die Ausnahme. Als ich letzten Herbst von einer viertägigen Reise nach Frankfurt heimkehrte, sah John aus, als wäre er im Krieg gewesen. Es war eine schwierige Situation, denn wir wollten sie auch nicht von ihm fernhalten, so dass wir ihre Stimmung abzulesen versuchten, um ihren Zugang zu ihm dementsprechend zu regulieren. Doch selbst wenn sie bestens gelaunt zu sein schien, schoss ihre Hand manchmal blitzschnell nach vorn und schlug oder kratzte ihn. Parallel dazu begann sie zudem, Wutanfälle von einer Wucht zu bekommen, die ich ihr nur zwei Monate zuvor niemals zugetraut hätte, während gleichzeitig eine bis dahin ebenso unbekannte Verletzlichkeit bei ihr auftauchte: Lag die kleinste Andeutung von Härte in meiner Stimme oder meinem Verhalten, senkte sie den Kopf, drehte sich um und begann zu weinen, als wäre ihre Wut etwas, was sie uns zeigen wollte, ihre Empfindsamkeit dagegen etwas, was sie vor uns zu verbergen suchte. Während ich dies schreibe, denke ich voller Zärtlichkeit an sie. Aber das ist auf dem Papier. Im realen Leben, wenn es wirklich darauf ankommt und sie so frühmorgens vor
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