Sterben: Roman (German Edition)
angetrunken in den See fällt, das kleine Mädchen, das unter die Räder eines Busses gerät, warum diese Eile, sie unseren Augen zu entziehen? Anstand? Was wäre anständiger, als dass die Eltern des Mädchens es dort ein oder zwei Stunden später sehen dürften, im Schnee neben der Unglücksstelle liegend, sowohl ihre blutbesudelten Haare als auch die saubere Steppjacke? Offen für die Welt, ohne Geheimnisse, so würde sie dort liegen. Doch selbst diese eine Stunde im Schnee ist undenkbar. Eine Stadt, die ihre Toten nicht aus dem Blickfeld entfernt, in der man sie auf Straßen und Gassen, in Parks und auf Parkplätzen liegen sieht, ist keine Stadt, sondern eine Hölle. Dass diese Hölle unsere Lebensbedingungen realistischer und letztlich wahrhaftiger widerspiegelt, spielt keine Rolle. Wir wissen, dass es so ist, wollen es aber nicht sehen. Daher rührt der kollektive Akt der Verdrängung, für den das Wegschleusen der Toten ein Ausdruck ist.
Was genau verdrängt wird, lässt sich dagegen nicht so leicht sagen. Der Tod an sich kann es nicht sein, dazu ist seine Präsenz in unserer Gesellschaft zu groß. Wie viele Tote täglich in den Zeitungen oder Fernsehnachrichten genannt werden, schwankt den Umständen entsprechend etwas, aber auf ein Jahr hochgerechnet dürfte die durchschnittliche Zahl einigermaßen konstant sein, und da sie auf zahlreiche Informationskanäle verteilt ist, erscheint es praktisch unmöglich, ihr zu entgehen. Dieser Tod wirkt allerdings nicht bedrohlich. Im Gegenteil, er ist etwas, was wir haben möchten, und wir bezahlen gern, um ihn zu sehen. Nimmt man die immensen Mengen von Tod hinzu, die fiktional produziert werden, fällt es umso schwerer, das System zu verstehen, das die Toten unserem Blickfeld entzieht. Wenn uns der Tod als Phänomen nicht ängstigt, woher rührt dann dieses Unbehagen angesichts der toten Körper? Es muss entweder bedeuten, dass es zwei Arten von Tod gibt, oder dass ein Widerspruch existiert zwischen unserer Vorstellung vom Tod und dem Tod, wie er in Wahrheit beschaffen ist, was im Grunde auf dasselbe hinausläuft: Entscheidend ist, dass unsere Vorstellung von ihm so fest in unserem Bewusstsein verankert ist, dass wir nicht nur erschüttert sind, wenn wir die Wirklichkeit davon abweichen sehen, sondern dies auch mit allen Mitteln zu verbergen suchen. Nicht als Folge einer irgendwie gearteten, bewussten Überlegung, wie es bei Riten geschieht, zum Beispiel der Beerdigung, deren Inhalt und Sinn heutzutage verhandelbar sind und somit von der Sphäre des Irrationalen in die des Rationalen überführt, vom Kollektiven zum Individuellen – nein, die Art und Weise, in der wir die Toten entfernen, ist niemals Gegenstand von Diskussionen gewesen, es war schon immer etwas, was wir einfach getan haben, aus einer Notwendigkeit heraus, die keiner begründen kann, aber jeder kennt: Stirbt dein Vater an einem stürmischen Sonntag im Herbst draußen auf dem Hof, deckst du ihn zumindest zu. Dies ist jedoch nicht der einzige Impuls, der uns im Umgang mit den Toten ereilt. Ebenso auffällig wie das Verbergen aller Leichen ist die Tatsache, dass sie schnellstmöglich auf Erdbodenniveau gebracht werden. Ein Krankenhaus, das seine Toten nach oben verfrachtet, seine Obduktionssäle und Leichenhallen in den obersten Etagen des Gebäudes unterbringt, ist nahezu undenkbar. Die Toten bewahrt man möglichst weit unten auf. Und das gleiche Prinzip wird auf die Firmen übertragen, die sich ihrer annehmen: eine Versicherung kann ihre Räumlichkeiten getrost in der achten Etage einrichten, ein Beerdigungsinstitut dagegen nicht. Alle Bestatter haben ihre Büros möglichst nahe am Erdgeschoss. Woher das kommt, ist schwer zu sagen; man könnte versucht sein zu glauben, dass es an einer alten Konvention liegt, die ursprünglich ein praktisches Ziel verfolgte, etwa, dass der Keller kalt war und deshalb am besten zur Aufbewahrung der Leichen geeignet, und dass dieses Prinzip bis in unsere Zeit der Kühlschränke und Kühlräume erhalten blieb, und sollte dies nicht so sein, dass der Gedanke, die Toten in Gebäuden nach oben zu transportieren, widernatürlich erscheint, als schlössen Höhe und Tod einander gegenseitig aus. Als verfügten wir über eine Art chtonischen Instinkt, irgendetwas tief in uns, das unsere Toten zu jener Erde hinabführen muss, aus der wir gekommen sind.
Es mag folglich den Anschein haben, als würde der Tod über zwei unterschiedliche Systeme vertrieben. Das eine ist mit
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