Sterben: Roman (German Edition)
sie ihn gefunden hatte, der Tod war auf der Treppe, die sie ihn hinuntergetragen hatten, der Tod war im Badezimmer, wo Großvater mit dem Bauch voller Blut umgekippt war. Schloss ich die Augen, gab es kein Entrinnen mehr vor dem Gedanken, dass die Toten kommen könnten, genau wie damals in meiner Kindheit. Die Augen schließen musste ich jedoch. Gelang es mir, diese kindischen Vorstellungen abzutun, kam ich plötzlich nicht am Bild von Vaters Leichnam vorbei. Die verflochtenen Finger mit den weißen Nägeln, die gelblich gewordene Haut, die eingefallenen Wangen. Bis weit in einen leichten Schlaf hinein begleiteten mich diese Bilder so, dass sich unmöglich sagen ließ, ob sie zur Welt der Wirklichkeit oder des Traums gehörten. Als sich mein Bewusstsein einmal in dieser Weise öffnete, war ich mir auf einmal sicher, dass sich seine Leiche im Schrank befand, woraufhin ich diesen öffnete, mich durch alle Kleider wühlte, die darin hingen, den nächsten und wieder nächsten öffnete, und mich, als ich das getan hatte, ins Bett zurücklegte und weiterschlief. In meinen Träumen war er mal tot, mal lebendig, mal in der Gegenwart, mal in der Vergangenheit. Als hätte er vollkommen die Kontrolle über mich übernommen, als steuerte er alles in mir, und als ich endlich gegen acht Uhr aufwachte, war mein erster Gedanke, dass er mich in dieser Nacht heimgesucht hatte, der zweite, dass ich ihn noch einmal sehen musste.
Zwei Stunden später schloss ich die Tür zur Küche, in der Großmutter saß, ging zum Telefon und wählte die Nummer des Beerdigungsinstituts.
»Beerdigungsinstitut Andenæs?«
»Ja, hallo, hier spricht Karl Ove Knausgård. Ich war vorgestern mit meinem Bruder bei Ihnen. Es ging um meinen Vater. Er ist vor vier Tagen gestorben …«
»Ja, hallo.«
»Wir haben ihn gestern gesehen … Ich wollte fragen, ob es unter Umständen möglich wäre, ihn noch einmal zu sehen? Ein letztes Mal, wenn Sie verstehen …«
»Natürlich können Sie ihn noch einmal sehen. Wann würde es Ihnen passen?
»Tja-a«, sagte ich. »Irgendwann heute Nachmittag? Drei? Vier?«
»Sollen wir sagen, um drei?«
»Ja.«
»Vor der Kapelle.«
»Ja.«
»Dann halten wir das so fest. Schön.«
»Vielen Dank.«
»Gern geschehen.«
Erleichtert über den unproblematischen Verlauf des Gesprächs, ging ich in den Garten und mähte weiter den Rasen. Der Himmel war bedeckt, das Licht sanft, die Luft warm. Gegen zwei war ich fertig. Daraufhin ging ich zu Großmutter hinein und sagte ihr, dass ich mich mit einem Freund treffen wolle, zog mich um und machte mich auf den Weg zur Kapelle. Dort stand dasselbe Auto vor der Tür, derselbe Mann öffnete mir, als ich anklopfte. Er nickte mir zu, öffnete die Tür zu dem Raum, in dem wir am Vortag gewesen waren, ohne jedoch selbst hineinzugehen, und ich stand erneut vor Vater. Diesmal war ich darauf vorbereitet, was mich erwartete, und sein Körper, dessen Haut sich im Laufe der letzten vierundzwanzig Stunden offenkundig noch dunkler verfärbt hatte, weckte keines der Gefühle, die mich am Vortag innerlich zerrissen hatten. Nun sah ich das Leblose. Dass es keinen Unterschied mehr zwischen dem gab, was einmal mein Vater gewesen war, und dem Tisch, auf dem er lag, oder dem Fußboden, auf dem der Tisch stand, oder der Steckdose in der Wand unter dem Fenster, oder dem Kabel, das zu der Wandleuchte daneben führte. Denn der Mensch ist nur eine Form unter anderen Formen, die von der Welt immer und immer wieder hervorgebracht werden, nicht nur in allem, was lebt, sondern auch in dem, was, gezeichnet in Sand, Stein, Wasser, nicht lebt. Und der Tod, den ich stets als die wichtigste Größe im Leben betrachtet hatte, dunkel, anziehend, war nicht mehr als ein Rohr, das platzt, ein Ast, der im Wind bricht, eine Jacke, die von einem Kleiderbügel rutscht und zu Boden fällt.
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