Sterben: Roman (German Edition)
Geheimhaltung und Schwere, Erde und Dunkelheit verknüpft, das andere mit Offenheit und Leichtigkeit, Äther und Licht. Ein Vater und sein Kind werden getötet, als der Vater versucht, das Kind in einer Stadt irgendwo im Nahen Osten aus der Schusslinie zu ziehen, und das Bild der beiden, eng umschlungen, während die Kugeln ins Fleisch einschlagen und die Körper gleichsam erbeben lassen, wird von einer Kamera eingefangen und zu einem der tausenden Satelliten gesendet, die unseren Planeten umkreisen, und von dort auf Fernsehapparate in aller Welt verteilt, wo es sich als ein weiteres Bild von Tod oder Sterben in unser Bewusstsein schiebt. Diese Bilder haben kein Gewicht, keine Ausdehnung, keine Zeit und keinen Ort und auch keine Verbindung zu den Körpern, aus denen sie einmal kamen. Sie sind überall und nirgendwo. Die meisten von ihnen gleiten lediglich durch uns hindurch und verschwinden, einige wenige bleiben aus unterschiedlichen Gründen gegenwärtig und leben in der Dunkelheit unseres Gehirns. Eine Abfahrtsläuferin stürzt, und die Schlagader in ihrem Oberschenkel wird durchtrennt, Blut strömt hinter ihr in einer roten Linie den weißen Hang hinunter, und sie ist bereits tot, noch ehe der Körper zum Stillstand kommt. Ein Flugzeug hebt ab und beim Aufsteigen der Maschine schlagen Flammen aus den Tragflächen, der Himmel über den Häusern der Vorstadt ist blau, das Flugzeug explodiert darunter in einem Feuerball. Ein Fischerboot sinkt eines Abends vor der nordnorwegischen Küste, die siebenköpfige Besatzung ertrinkt, am nächsten Morgen berichten alle Zeitungen über das Ereignis, da es sich um ein so genanntes Mysterium handelt, das Wetter war ruhig, und das Boot hatte keinen Notruf abgesetzt, es verschwand einfach, was die Fernsehredaktionen am Abend zusätzlich betonen, indem sie mit einem Hubschrauber die Unglücksstelle überfliegen und Bilder von der leeren See zeigen. Der Himmel ist bewölkt, die graugrüne Dünung ruhig und schwer, gleichsam im Besitz eines anderen Temperaments als die jähen, weithin schäumenden Kämme, die an manchen Stellen hochschlagen. Ich sitze alleine davor und sehe es, vermutlich irgendwann im Frühling, denn mein Vater arbeitet im Garten. Ohne zu hören, was der Reporter sagt, starre ich auf die Meeresoberfläche und plötzlich tauchen die Umrisse eines Gesichtes auf . Ich weiß nicht, wie lange es da ist, ein paar Sekunden vielleicht, jedenfalls lange genug, um mich ungeheuer zu beeindrucken. Als das Gesicht verschwindet, stehe ich auf, um jemanden zu suchen, dem ich davon erzählen kann. Meine Mutter hat Spätdienst, mein Bruder ist bei einem Fußballspiel, und die anderen Kinder in unserer Siedlung wollen mir nicht zuhören, bleibt also nur Vater, denke ich und eile die Treppe hinunter und laufe ums Haus herum. Wir dürfen auf unserem Grundstück nicht rennen, weshalb ich, bevor ich in sein Blickfeld gelange, abbremse und gehe. Er steht auf der Rückseite des Hauses, mitten in dem, was einmal der Gemüsegarten werden soll, und schlägt mit einem Vorschlaghammer auf einen Felsbrocken ein. Obwohl die Ausschachtung nur einen Meter tief ist, haben die schwarze, hochgeschaufelte Erde, auf der er steht, und die Gruppe von Vogelbeerbäumen, die gleich jenseits des Zauns hinter ihm wachsen, dafür gesorgt, dass die Abenddämmerung dort unten bereits weiter fortgeschritten ist. Als er sich aufrichtet, liegt sein Gesicht fast vollständig im Dunkeln.
Trotzdem verfüge ich über mehr als genug Informationen, um zu wissen, woran ich bei ihm bin. Man erkennt es nicht am Gesichtsausdruck, sondern an seiner Körperhaltung, und diese deutet man nicht mit Gedanken, sondern intuitiv.
Er stellt den Hammer ab, zieht die Handschuhe aus.
»Und?«, sagt er.
»Ich habe im Fernsehen ein Gesicht im Meer gesehen«, sage ich und bleibe auf dem Rasen über ihm stehen. Unser Nachbar hat am frühen Nachmittag eine Fichte gefällt, und der intensive Harzgeruch, den die Holzscheiben verströmen, die auf der anderen Seite der Steinmauer lagern, hängt in der Luft.
»Einen Taucher?«, sagt mein Vater. Er weiß, dass ich mich für Taucher interessiere, und kann sich wahrscheinlich nicht vorstellen, dass ich etwas anderes spannend genug finden könnte, um zu ihm zu kommen und ihm davon zu erzählen.
Ich schüttele den Kopf.
»Es war kein Mensch. Es war eine Art Bild in der See.«
»Eine Art Bild«, sagt er und zieht die Zigarettenschachtel aus der Tasche auf seiner Hemdbrust.
Ich nicke und mache
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