Sterben: Roman (German Edition)
ich vor mir sah. Die Höhle, das schwarze Wasser … die Reihe von Froschmännern mit Laternen in den Händen … Die Sache ging so weit, dass es nicht einmal mehr half, die Augen wieder zu öffnen. Obwohl ich sah, dass ich mich in meinem Zimmer befand, umgeben von meinen eigenen, vertrauten Sachen, ließ mich das Grauen nicht los. Aus Furcht, dass etwas passieren könnte, wagte ich kaum zu blinzeln. Steif setzte ich mich aufs Bett, zog den Ranzen zu mir heran, ohne ihn anzusehen, warf einen Blick auf den Stundenplan, Mittwoch, und las, was dort stand, Mathe , Sachkunde , Musik , hob den Ranzen auf meinen Schoß und blätterte mechanisch in den Büchern. Als das getan war, nahm ich das aufgeschlagene Buch vom Kissen, setzte mich, lehnte mich an die Wand und begann zu lesen. Die Sekunden, die vergingen, weil ich regelmäßig aufschaute, wurden nach und nach zu Minuten, und als Vater uns Punkt neun zum Abendessen rief, hatte nicht die Angst mich in ihrer Gewalt, sondern das Buch. Sich von ihm loszureißen, kostete Kraft.
Es war uns nicht erlaubt, uns selbst Brotscheiben abzuschneiden, und es war uns ebenso wenig erlaubt, den Herd zu benutzen, so dass immer Mutter oder Vater das Abendessen für uns machten. Hatte Mutter Spätdienst, übernahm Vater alles: Wenn wir in die Küche kamen, standen zwei Gläser Milch und zwei Teller mit vier fertig bestrichenen Broten auf dem Tisch und warteten auf uns. Die Brote hatte er meist schon vorher zubereitet und anschließend in den Kühlschrank gestellt, und dass sie kalt waren, machte es schwierig, sie hinunterzubekommen, selbst wenn sie mit etwas belegt waren, was ich mochte. War Mutter zu Hause, wurde der Brotbelag auf den Tisch gestellt, von ihr oder von uns, und dieser kleine Kniff, durch den wir selbst bestimmen konnten, was auf dem Tisch stehen würde und was wir auf unseren Scheiben haben wollten, und darüber hinaus, dass die Brote Zimmertemperatur hatten, reichte aus, um in uns eine Art Freiheitsgefühl auszulösen: Konnten wir die Schranktüren öffnen, die Teller herausholen, die immer ein wenig klirrten, wenn sie aneinander schlugen, und sie auf den Tisch stellen; konnten wir die Besteckschublade aufziehen, die immer ein wenig raschelte, und die Messer neben die Teller legen; konnten wir die Gläser abstellen, den Kühlschrank öffnen, die Milch herausholen und einschenken, dann konnten wir auch den Mund aufmachen und reden. Das eine führte irgendwie zum anderen, wenn wir mit Mutter zu Abend aßen. Wir sprachen über alles, was uns in den Sinn kam, und sie interessierte sich für die Dinge, die wir ihr erzählten, und wenn wir ein bisschen Milch verschütteten oder uns vergaßen und den gebrauchten Teebeutel auf die Tischdecke legten (denn sie setzte manchmal Tee für uns auf), war das nicht weiter schlimm. Doch so, wie unsere Mitarbeit an der Mahlzeit diese Schleuse zur Freiheit öffnete, regulierte der Grad von Vaters Anwesenheit andererseits deren Ausmaß. War er außer Haus oder unten in seinem Büro, redeten wir so laut und unbefangen und mit so ausladenden Gesten, wie wir wollten; kam er die Treppe herauf, sprachen wir automatisch leiser und wechselten das Gesprächsthema, falls wir uns über etwas unterhalten hatten, das ihm vermutlich unpassend erschienen wäre; betrat er die Küche, verstummten wir ganz, saßen steif und aufrecht am Tisch, wie in Konzentration auf das Essen versunken; setzte er sich dagegen ins Wohnzimmer, unterhielten wir uns weiter, allerdings leiser und vorsichtiger.
An diesem Abend erwarteten uns die Teller mit den vier fertigen Broten, als wir in die Küche kamen. Eins mit braunem Molkenkäse, eins mit gelbem Käse, eins mit Sardinen in Tomatensauce, eins mit Kümmelkäse. Sardinen mochte ich nicht, weshalb ich mir das Brot als Erstes vornahm. Fisch widerte mich an, von gekochtem Kabeljau, den wir mindestens einmal in der Woche aßen, wurde mir übel; vom Dampf aus dem Topf, in dem er zog, von seinem Geschmack und seiner Konsistenz. Gleiches galt natürlich auch für gekochten Pollack, gekochten Seelachs, gekochten Schellfisch, gekochte Scholle, gekochte Makrele und gekochten Rotbarsch. An den Sardinen war nicht der Geschmack das schlimmste, die Tomatensauce bekam ich hinunter, indem ich mir einredete, es wäre eine Art Ketchup, sondern die Konsistenz des Fischs, vor allem die kleinen, glatten Schwänze. Sie waren widerlich. Um den Kontakt mit ihnen zu minimieren, biss ich sie immer als Erstes ab, legte sie auf meinem Teller zur Seite,
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