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Sterben: Roman (German Edition)

Sterben: Roman (German Edition)

Titel: Sterben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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doch ihre grundlegenden Prinzipien aus dem Gymnasium bekannt. Besser stand es um seine Kenntnisse in Geschichte, da er das Fach neben Norwegisch und Englisch studiert hatte. Er war mit anderen Worten kein Experte für irgendetwas, abgesehen von Pädagogik vielleicht, konnte jedoch von allem etwas. So gesehen war er ein typischer Lehrer, wohlgemerkt zu einer Zeit, in der es noch mit einem gewissen Status verbunden war, an einer Gesamtschule zu unterrichten. Unser Nachbar hinter der Steinmauer, Prestbakmo, arbeitete als Lehrer an derselben Schule, genau wie der Nachbar, der oberhalb des bewaldeten Hangs hinter dem Haus wohnte, Olsen, während ein anderer Nachbar, der am anderen Ende der Ringstraße wohnte, Knudsen, stellvertretender Direktor an einer anderen Gesamtschule war. Als mein Vater an jenem Frühlingsabend Mitte der siebziger Jahre den Vorschlaghammer über den Kopf hob und ihn auf den Fels hinabsausen ließ, tat er dies folglich in einer Welt, die er kannte und die ihm vertraut war. Erst als ich selbst in das gleiche Alter kam, begriff ich, dass man dafür auch einen Preis bezahlt. Wenn der Überblick über die Welt größer wird, schwindet nicht nur der Schmerz, den sie verursacht, sondern auch der Sinn. Die Welt zu verstehen heißt, einen bestimmten Abstand zu ihr einzunehmen. Was zu klein ist, um mit dem bloßen Auge wahrgenommen zu werden, wie Moleküle und Atome, vergrößern wir, und was zu groß ist, wie Wolkengebilde, Flussdeltas, Sternbilder, verkleinern wir. Wenn wir den Gegenstand so in die Reichweite unserer Sinne gebracht haben, fixieren wir ihn. Das Fixierte nennen wir Wissen. In unserer gesamten Kindheit und Jugend streben wir danach, den korrekten Abstand zu Dingen und Phänomenen einzunehmen. Wir lesen, wir lernen, wir erfahren, wir korrigieren. Dann gelangen wir eines Tages an den Punkt, an dem alle notwendigen Abstände bestimmt, alle notwendigen Systeme etabliert sind. Es ist der Punkt, ab dem die Zeit schneller zu vergehen beginnt. Sie stößt auf keine Hindernisse mehr, alles ist festgelegt, die Zeit durchströmt unser aller Leben, die Tage verschwinden in einem rasenden Tempo, und ehe wir uns versehen, sind wir vierzig, fünfzig, sechzig … Sinn erfordert Fülle, Fülle erfordert Zeit, Zeit erfordert Widerstand. Wissen ist Abstand, Wissen ist Stillstand und der Feind des Sinns. Mein Bild von Vater an jenem Abend 1976 ist mit anderen Worten eine Doppelbelichtung: Einerseits sehe ich ihn, wie ich ihn damals sah, mit den Augen des Achtjährigen, unberechenbar und beängstigend, andererseits sehe ich ihn als einen Gleichaltrigen, durch dessen Leben die Zeit weht und unablässig größere Stücke Sinn mit sich reißt.
    Der Klang eines Hammers auf Stein hallte durch die Siedlung. Ein Wagen fuhr von der Hauptstraße kommend den sanften Anstieg herauf, passierte mit eingeschalteten Scheinwerfern. Die Tür des Nachbarhauses öffnete sich, und Prestbakmo blieb auf der Türschwelle stehen und zog sich Arbeitshandschuhe an, während er gleichzeitig die klare Abendluft einsog, ehe er die Schubkarre nahm und diese vor sich herschiebend über den Rasen ging. Es roch nach Pulver von dem Fels, auf den Vater einschlug, nach Fichte von den Holzklötzen hinter der Mauer, nach frisch umgegrabener Erde und Wald, und in der schwachen Brise aus Norden hing der Duft von Salz. Ich dachte an das Gesicht, das ich im Meer gesehen hatte. Obwohl nur wenige Minuten vergangen waren, seit es mir zuletzt in den Sinn gekommen war, hatte es sich bereits verändert. Jetzt sah ich das Gesicht meines Vaters.
    Unten in der Senke hörte er auf zu schlagen.
    »Stehst du da immer noch herum, Junge?«
    Ich nickte.
    »Nun geh schon rein.«
    Ich setzte mich in Bewegung.
    »Und du?«, sagte er.
    Ich blieb stehen und drehte mich fragend zu ihm um.
    »Diesmal wird nicht gerannt.«
    Ich starrte ihn an. Woher wusste er, dass ich gelaufen war?
    »Und mach den Mund zu, es zieht«, sagte er. »Du siehst aus wie ein Idiot.«
    Ich gehorchte, schloss den Mund und ging langsam um das Haus herum. Als ich zur Vorderseite kam, war die Straße voller Kinder. Die ältesten standen in einer Traube zusammen, auf Fahrrädern, die in der Dämmerung wirkten, als wären sie Teil ihrer Körper. Die jüngsten spielten Verstecken. Wer gefangen worden war, stand in einem Kreidekreis auf dem Bürgersteig, die anderen lagen ringsum im Wald unterhalb der Straße versteckt, für den Suchenden, der gleichzeitig die bereits Gefangenen bewachen musste, nicht zu

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