Sterben: Roman (German Edition)
kehrt, um zurückzugehen.
»Warte mal kurz«, sagt er.
Er lässt ein Streichholz aufflammen und schiebt den Kopf ein wenig vor, um die Zigarette anzuzünden. Die Flamme gräbt ein kleines Loch aus Licht in das graue Zwielicht.
»So«, sagt er.
Nachdem er einen tiefen Zug genommen hat, setzt er einen Fuß auf den Fels und starrt zum Wald auf der anderen Straßenseite hinüber. Vielleicht starrt er aber auch den Himmel über den Bäumen an.
»War das, was du da gesehen hast, ein Bild von Jesus?«, sagt er und sieht zu mir hoch. Wäre seine Stimme noch freundlich gewesen und hätte es die lange Pause vor der Frage nicht gegeben, hätte ich angenommen, dass er mich auf den Arm nehmen will. Er findet es ein bisschen peinlich, dass ich gläubig bin; sein größter Wunsch ist, dass ich mich nicht von den anderen Kindern unterscheide, und unter all den Kindern, von denen die Siedlung nur so wimmelt, gibt es niemanden sonst als seinen jüngsten Sohn, der sich als Christ bezeichnet.
Aber er möchte es tatsächlich wissen.
Ich verspüre einen Anflug von Freude, weil es ihn wirklich interessiert, bin aber auch ein bisschen beleidigt darüber, dass er mich so unterschätzt.
Ich schüttele den Kopf.
»Es war nicht Jesus«, sage ich.
»Es freut mich fast, das zu hören«, erwidert Vater und lächelt. Oben auf dem Hang hört man das schwache Wispern von Fahrradreifen auf Asphalt. Das Geräusch wird schnell lauter, und es ist so still in unserer Siedlung, dass der leise, singende Ton, der in dem Rauschen entsteht, klar und deutlich zu hören ist, als das Fahrrad im nächsten Moment auf der Straße hinter uns vorbeirollt.
Vater zieht noch einmal an seiner Zigarette, wirft sie halb geraucht über die Steinmauer, hustet ein paar Mal, zieht die Handschuhe an und greift wieder nach dem Hammer.
»Denk nicht mehr daran«, sagt er und blickt zu mir hoch.
Ich war an jenem Abend acht, mein Vater dreißig. Auch wenn ich selbst heute noch nicht behaupten kann, ihn zu verstehen oder zu wissen, was für ein Mensch er war, ergibt sich aus der Tatsache, dass ich mittlerweile sieben Jahre älter bin, als er damals war, dass mir einzelne Dinge leichter verständlich erscheinen. Zum Beispiel, wie groß der Unterschied zwischen unseren Tagen war. Während meine Tage bis zum Rand mit Sinn gefüllt waren und jeder Schritt mir neue Möglichkeiten eröffnete und jede Möglichkeit mich restlos ausfüllte, und zwar in einer Weise, die mir heute letztlich unverständlich ist, war der Sinn seiner Tage nicht in einzelnen Begebenheiten gebündelt, sondern über so große Flächen verstreut, dass es kaum möglich ist, ihn mit etwas anderem als abstrakten Begriffen greifbar werden zu lassen. »Familie« war so einer, »Karriere« ein anderer. Wenige oder auch gar keine unvorhergesehenen Möglichkeiten dürften sich ihm im Laufe seiner Tage geboten haben, er muss immer in groben Zügen gewusst haben, was sie ihm bringen würden und wie er dazu stehen sollte. Er war seit zwölf Jahren verheiratet, von denen er acht Jahre als Lehrer in einer Gesamtschule gearbeitet hatte, er hatte zwei Kinder, ein Haus und ein Auto. Er war in den Gemeinderat gewählt worden und saß als Vertreter der Partei Venstre im Gemeindevorstand. Im Winterhalbjahr beschäftigte er sich durchaus erfolgreich mit Philatelie, binnen kurzer Zeit war er einer der kundigsten Briefmarkensammler der Region geworden, während er seine Freizeit im Sommerhalbjahr mit Gartenarbeit verbrachte. Was er an diesem Frühlingsabend dachte, weiß ich nicht, ebenso wenig, welches Bild er von sich hatte, als er sich mit dem Hammer in den Händen im Zwielicht aufrichtete, aber ich bin mir einigermaßen sicher, dass es in ihm das Gefühl gab, die Welt, die ihn umgab, recht gut zu verstehen. Er kannte alle Nachbarn in unserer Siedlung und wusste, wo sie im Verhältnis zu ihm selbst gesellschaftlich standen, und vermutlich wusste er auch einiges über Dinge, die sie lieber für sich behalten hätten, zum einen, weil er ihre Kinder unterrichtete, zum anderen, weil er einen Blick für die Schwächen anderer Menschen hatte. Als Mitglied der neuen, gut ausgebildeten Mittelschicht wusste er zudem viel über die große Welt, über die ihn Zeitung, Rundfunk und Fernsehen täglich auf dem Laufenden hielten. Er wusste einiges über Botanik und Zoologie, da er sich in seiner Jugend dafür interessiert hatte, und auch wenn er in den übrigen naturwissenschaftlichen Fächern nicht so bewandert zu sein schien, waren ihm
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