Sterben Sie blo nicht im Sommer
Krankheit über einen Menschen oder über eine Familie hereingebrochen ist. Warum also resignieren oder verzweifeln, meine Ziele aufgeben? Und ich kenne eine wirklich große Zahl von Gleichgesinnten, das hilft sehr. Auch wenn wir keine Macht haben. Gar keine.
Wenn Sie selbst in eine Klinik müssten – worauf würden Sie achten? Was sind die fünf wichtigsten Kriterien?
Die Klinik dürfte nicht zu groß sein; sie sollte in der Nähe liegen; ich würde meinen Hausarzt nach seinen Erfahrungen mit dieser Klinik fragen; auch würde ich ihn fragen, ob er sich als Patient in diese Klinik begeben würde; ich würde bei der Aufnahmeuntersuchung in der Ambulanz auf das Betriebsklima und auf den Umgang mit mir achten.
Nettsein ist auch keine Lösung
Ich sitze zwischen Prostatakarzinom und Gebärmutterhalskrebs im Empfangsbereich der Strahlenklinik. Rechts und links von mir vertreiben sich noch zwei andere Wartende die Zeit mit dem Unterhaltungsprogramm: einer reichen Auswahl an Krebs-Infobroschüren. Ich habe mich für »Lungenkrebs« entschieden. Nach sieben Jahren Abstinenz rauche ich seit ein paar Wochen wieder. Wie es aussieht, werde ich auch noch mein zweites Krebs-Interessensgebiet vertiefen können, den Hautkrebs (eine intensive Solarium-Phase mit Anfang zwanzig). Es ist schon kurios, wie viel Zeit man mit Warten verbringt, gerade dann, wenn sie furchtbar knapp wird. Vor zwei Wochen waren wir schon einmal hier. Meine Mutter sollte ihre Bestrahlungstauglichkeit unter Beweis stellen. Alles lief ganz manierlich. Bis meine Mutter, gerade als man sie aus dem Zimmer schob, meine Hand nahm und zu mir sagte: »Ihr seid immer alle so gut zu mir!« Und: »Was würde ich nur ohne euch machen!« Ich fing sofort an zu heulen. Und dann noch einmal, als die Ärztin meine Mutter als stabil genug für eine Bestrahlung befand. Ich frage die Ärztin, ob der geplante Bestrahlungs-Marathon überhaupt in einem vertretbaren Verhältnis zum Ertrag stehen wird. Wir würden für mehr Zeit zwar so ziemlich alles abnicken, was das Lebens-Restguthaben meiner Mutter aufstocken könnte. Keinesfalls aber sollen ihre letzten Wochen eine sinnlose und quälende Behandlungstortur werden. Das sage ich auch der Ärztin. Die ist überraschend optimistisch. Nach langen Wochen mit lauter Nostradamus-Imitatoren in weißen Kitteln fühlt es sich an wie eine Rosarot-Explosion. Mit Bestrahlung könnte meine Mutter sicher gut noch ein Jahr oder sogar länger leben, so die Ärztin. Ein Weihnachten noch. Meine Hochzeit. Ein Bonustrack Frühjahr und Sommer. Vor allem anderen aber könnten wir ihr endlich sagen, wie sterbenskrank sie ist. Dass eben nichts mehr wird ›wie früher‹. Bislang war es ihr dafür zu schlecht gegangen. Wenn sie aber erst mal stabiler ist, so unsere Vorstellung, können und müssen wir es ihr endlich sagen. Noch ein Jahr, das ist ja was, mehr als bloß eine Handvoll Möglichkeiten. Vielleicht möchte sie noch etwas Bestimmtes tun, sehen, jemanden treffen, etwas Wichtiges regeln oder einfach alles lassen, wie es ist. Wofür immer sie sich entscheidet, sie muss es mit dem Wissen um ihren Zustand selbst bestimmen können.
Unter welchem Aspekt man es auch betrachtet: Ein Jahr ist so unendlich viel wert, auch eine sehr enttäuschte Mutter, die sich nach Wochen auf der Intensivstation und in der Reha-Klinik nichts mehr ersehnt, als nach Hause zu kommen. Wie alles, was wir ihr raten und vorschlagen und letztlich über ihren Kopf hinweg für sie entscheiden, akzeptiert sie auch dies mit ihrer unendlichen Vertrauensseligkeit. Noch immer weiß sie nicht um ihre Prognose. Trotzdem bleiben wir leidlich bei der Wahrheit: Ihr Tumor habe nicht ganz entfernt werden können. Deshalb sei die Bestrahlung notwendig. Sie fragt nicht nach. Klaglos lässt sie das Anpassen ihrer Bestrahlungsmaske über sich ergehen. Dafür wird ihr thermoplastisches Kunststoffgewebe in weichem, warmem Zustand über das Gesicht gelegt. Nur Nase und Mund werden frei gelassen. Keine sehr angenehme Prozedur. Der Vorteil ist aber, dass man die Bestrahlung mit so einer fixierenden Maske sehr punktgenau durchführen kann. Außerdem muss das Gesicht meiner Mutter nicht jedes Mal an den entsprechenden Bestrahlungsfeldern markiert werden, bis es aussieht wie ein Kleid von Pucci.
Ich bin mit meiner Lektüre längst beim Bauchspeicheldrüsenkrebs angekommen (man weiß ja nie …), als meine Mutter endlich in der Bestrahlungsklinik eintrifft. Als MRSA -Trägerin bekommt sie ein
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