Sterben Sie blo nicht im Sommer
Genügt das? Keine der Frauen würde auch nur in Erwägung ziehen, in ein Flugzeug zu steigen, das als einzige Sicherheitsreferenz angibt, dass es unzuverlässigere gibt. Nicht eine von ihnen war in letzter Zeit in einer deutschen Klinik oder hat einen Angehörigen, der dort lag. Aber alle sind fest davon überzeugt, hierzulande bestens versorgt zu sein. Ich sage, mit unserem Gesundheitssystem verhält es sich wie mit diesen Sternen, deren Licht man noch sieht, obwohl sie längst verglüht sind. Was wir betrachten, ist die Vergangenheit. In der Gegenwart ist Gesundheit schon lange kein Fairtrade-Produkt mehr. Seit neuestem wird der Klinikaufenthalt ja in den Rang eines frei wählbaren Konsumgutes befördert, nur wir ›Kunden‹ können ihn nicht postwendend umtauschen. Zum Beispiel gegen einen Besuch in der »Sachsenklinik« aus der ARD -Ärzte-Soap »In aller Freundschaft«. Hier sind Ärzte und Pflegepersonal immer dienstags so edel, hilfreich und gut, als wäre Kranksein ein einziger evangelischer Kirchentag: umhegt von Gutmenschen, die nachts nicht schlafen können, wenn sie einmal bloß ein bisschen in Eile waren. Die Serie gehört zu den erfolgreichsten Dauerserien des »Ersten« und trägt vermutlich nicht wenig zur Verbreitung völlig illusorischer Vorstellungen vom deutschen Klinikalltag bei. Kein Wunder, wenn eine Studie zu dem Ergebnis kam, dass der Klinik-Realitätsschock von Menschen, die häufig Arztserien gucken, als besonders groß empfunden wird, »weil sie es aus dem TV gewohnt waren, dass sich Ärzte und Krankenschwestern viel Zeit für die Wehwehchen der Patienten nehmen«. [61] Nun müssen sie feststellen, wie die durchschnittliche Verweildauer eines Arztes am Krankenbett Einsteins Theorie widerlegt, dass nichts schneller sein kann als das Licht. Jetzt wissen sie es besser. Meist haben sie aber, wie wir auch, nun weder die Möglichkeit noch die Energie, etwas an den Verhältnissen zu ändern. Und wie uns glaubt man ihnen nicht, wenn sie von ihren Erfahrungen erzählen. Zugegeben: Es ist ja auch unglaublich, was einem im Krankenhaus widerfahren kann.
Einmal stellen wir fest, dass meine Mutter seit fast 24 Stunden in denselben Windeln liegt. Es sind 35 Grad in ihrem Zimmer. Ich lege Häubchen, Kittel, Handschuhe und Mundschutz ab, um eine Schwester aufzutreiben. »Meine Mutter trägt seit gestern Abend dieselben Windeln«, teile ich ihr mit. »Das kann ja gar nicht sein!« »Aber ja!«, beharre ich und lege meine lückenlose Indizienkette vor: »Mein Vater war heute früh hier, da lag meine Mutter noch in den Windeln von gestern Abend. Seitdem ist von der Familie ständig jemand bei ihr gewesen, aber niemand war da, die Windeln zu wechseln oder meine Mutter zu waschen, und wir haben jetzt 17 Uhr.« »Wissen Sie was«, geht die Schwester nun übergangslos in die Offensive, »das nächste Mal sprechen Sie einfach FREUNDLICH eine Schwester oder den Pfleger an und BITTEN darum, die Windeln zu wechseln. Jetzt werden Sie sich mal einen Moment GEDULDEN . Es kommt gleich jemand.« Sie sagt es, als hätten wir hier unsachliche Forderungen in der Größenordnung von fünfgängigen Gourmet-Menüs oder »Maniküre für alle!« gestellt. Außerdem: Ich war FREUNDLICH . Wir sind immer freundlich. Das ist ja unsere Strategie. Wir haben keine andere. Außer vielleicht Amok. Deshalb sage ich auch bloß: »Finden Sie nicht, es ist jetzt gerade etwas ungünstig?«, als mich ein paar Tage später die Physiotherapeutin aus dem Krankenzimmer schickt. Es ist zwölf Uhr. Das wieder einmal nicht pürierte Essen steht auf dem Tisch vor meiner Mutter. Ihr Klinik-Nachthemd ist bis über den Bauch hochgeschoben, darunter liegt sie nackt in offenen und wieder einmal übervollen Windeln. Wegen der unerträglichen Hitze, weil wieder niemand Zeit hatte, aber auch, weil sie mittlerweile so wund ist, dass ihre Rückseite aussieht wie Tartar. Trotzdem exekutiert die therapeutische Fachkraft nun ihre Pflichten an meiner Mutter. Oder eben das wenige, was inmitten dieses Chaos getan werden kann. Was das genau ist, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, dass die Therapeutin den Raum nach einer Viertelstunde wieder verlässt. Es ist einer der absoluten Tiefpunkte dieser Zeit. In seinen eigenen Exkrementen zu liegen, während gleichzeitig das Mittagessen vor einem steht, und dazu noch ein fremder Mensch als Zeuge dieser maximalen Entwürdigung. Da könnte man sehr gut ein wenig Diskretion, Verständnis und Einfühlungsvermögen
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