Sterben Sie blo nicht im Sommer
brauchen. Stattdessen: Sture Plansollerfüllung. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie meine Mutter sich gefühlt haben muss.
Arbeitsroutine erzeugt Gleichgültigkeit, die Übermacht der Sparzwänge und des ständigen Arbeitsdrucks Resignation. Man könnte Mitgefühl dafür aufbringen. Kaum ein anderer Berufsstand leidet so häufig unter stressbedingten Krankheiten wie die Krankenpflege. Jeder dritte hier Beschäftigte gab in einer vom Statistischen Bundesamt veröffentlichten Befragung an, massiv unter Zeitdruck und Arbeitsüberlastung zu leiden. Im Jahr 2007 fielen Pfleger wegen arbeitsbedingter Gesundheitsprobleme im Durchschnitt 38 Tage aus, 16 Tage mehr als andere Arbeitnehmer. [62] Gleichzeitig ist ausgerechnet einer der schwersten aller Berufe so unglaublich erbärmlich entlohnt, dass man als Krankenschwester eigentlich Taschentücher und Antidepressiva von der Steuer absetzen können müsste. 20 Prozent aller in der Krankenpflege Vollzeitbeschäftigten beziehen ein Bruttoeinkommen von unter 1.500 Euro und weitere 20 Prozent zwischen 1.500 und 2.000 Euro. Nur 13 Prozent bekommen mehr als 3.000 Euro brutto pro Monat. [63] Es gäbe damit ein paar sehr überzeugende Gründe, der Krankenschwester, nach der man vergeblich geklingelt hat, weil die Sondenkost mal wieder nicht ordentlich durchläuft, die den Patienten weder gewaschen noch ihm rechtzeitig die Medikamente verabreicht hat, einfach mal über den Kopf zu streichen und zu sagen: »Macht nichts, dass meine Mutter hier in ihrer Scheiße liegt. Sie haben es ja auch nicht leicht!« Aber dann wäre man praktisch der personifizierte Fertigzement für die Verhältnisse. Mit einem ›Ja, schlimm, wie überlastet Sie hier alle sind!‹ tut man nichts anderes, als eilfertigst ausgerechnet jene Zustände zu akzeptieren, die einen schneller als unbedingt nötig unter die Erde bringen könnten. Die einen ganze Lungenflügel kosten, dafür sorgen, dass nicht der linke, sondern der rechte große Zeh amputiert wird, dass Scheren in den Wunden vergessen werden, man langsam verhungert oder sich bis auf die Knochen wundliegt. Im »Pflegethermometer«, einer jährlich durchgeführten Studie, die die Arbeitsbelastung von Pflegenden in Krankenhäusern misst, steigt die Zahl der Mängel in der pflegerischen Versorgung, die mit der Arbeitsbelastung einhergehen, seit Jahren kontinuierlich an. [64] Das betrifft die Überwachung verwirrter Patienten, die Mobilisierung, die Lagerung, die Medikamentengabe, den Wechsel von Verbänden und natürlich Hygienemaßnahmen wie Mundpflege sowie die Gespräche mit Patienten, insbesondere mit Schwerstkranken, und die Unterstützung beim Essen. Die Ursachen liegen im rasanten Stellenabbau. Hinzu kommt, dass sich der Anteil jüngerer Pflegekräfte unter 35 Jahren deutlich verringert hat. Durch diese Altersverschiebung wächst das Risiko überlastungs- beziehungsweise krankheitsbedingter Ausfallzeiten, was den Pflege-Notstand weiter verschärft. Auch der wachsende Anteil von Teilzeitbeschäftigten zeigt Wirkung. Laut dem »Pflegethermometer« strebt jede vierte Pflegekraft aufgrund von Überforderung eine Reduzierung der Arbeitszeit an. Teilzeit aber bedeutet: Ständige Übergaben, Unterbrechungen im Arbeitsablauf und letztlich, dass sich niemand wirklich zuständig und verantwortlich fühlt. Mit Rücksicht auf knallhart reduzierte Personalschlüssel, auf immer mehr Betten für immer weniger Pflegepersonal würde man da auch und vor allem bei den Entscheidern völlig falsche Signale setzen. »Geht doch!« denken die sich, und: »Da ist sicher noch mehr Einsparpotential drin.« Oder: »Solange sich niemand wirklich deutlich beschwert, lassen wir einfach noch ein paar weitere Stellen unbesetzt.« Ist ja für einen guten Zweck: unser Gesundheitssystem am Leben zu erhalten. Muss man verstehen. Braucht man aber nicht. Wie gerade in einer aktuellen Studie nachgewiesen wurde, sind 23 Prozent der 176 Milliarden Euro Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung von 2010 bürokratischen Abläufen geschuldet. In der Industrie würde dieser Anteil bloß bei 6,1 Prozent liegen. »Durch schlankere Strukturen ließe sich der Beitragssatz in der gesetzlichen Krankenversicherung von derzeit 15,5 Prozent auf 14,2 Prozent senken.« [65] Und man hätte endlich Geld für eine Versorgung der Patienten, die den Namen verdient. Kleine Fußnote: Kurz nach Veröffentlichung der Studie und nachdem die Patientenschutzorganisation »Deutsche Hospiz
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