Sterben Sie blo nicht im Sommer
die das aber kein Stück interessierte.)
Platz 2: Das Rumpelstilzchen und seine Verwandten. Sie sind nicht privat versichert, verfügen aber über die zweitbesten Voraussetzungen auf Aufmerksamkeit: ausreichend Durchsetzungsvermögen und keinerlei Hemmungen, auf der Station den dritten Weltkrieg anzuzetteln, wenn etwas gnadenlos schiefläuft. Sollte das Rumpelstilzchen etwas geschwächt sein, schließlich ist es krankheitsbedingt in der Klinik und nicht so ganz auf der Höhe seiner Möglichkeiten, selbst so viel Wind zu machen, dass der Deutsche Wetterdienst eigentlich eine Sturmwarnung herausgeben sollte, hat es Angehörige und/oder Freunde, die das übernehmen. Das kann Leben retten, so wie kürzlich der Mutter einer Freundin. Die Mutter war bereits stark abgemagert, doch das Klinikpersonal hatte nicht drauf geachtet, dass die Patientin einfach nichts zu sich nahm. Das Essenstablett wurde offenbar über Tage voll hingestellt und voll wieder abgeräumt. Bis die Tochter insistierte. Freundlich, aber bestimmt. Dann passierte endlich etwas. Die Mutter wurde nun über eine Nasensonde ernährt. Könnte sein, dass ihr das das Leben gerettet hat. Uns wurde oft zum Modell ›Rumpelstilzchen‹ geraten. »Machen Sie ruhig Ärger!«, sagte man uns. »Die Ärger machen, bekommen, was sie wollen.« Wir fanden das immer schwierig. Es entspricht so gar nicht unserem Naturell, gleich auf jede Palme zu klettern, die so herumsteht. Ein Fehler, würde ich heute sagen. Ein möglichst niedriges Erregungsniveau, eine ordentliche Portion Skepsis und die Bereitschaft, wenn es sein muss, den austrainierten Choleriker zu geben, gehören ebenso wie Kulturbeutel, Morgenmantel und ausreichend Münzen für den Telefon- und Fernsehkartenautomaten unbedingt mit in das Klinik-Survival-Paket. Am besten ist sowieso, man bringt seine Wut schon ein bisschen vorgegart mit ins Krankenhaus. Nur damit sie ganz sicher auch in den zwei Minuten ihre Betriebstemperatur erreicht, die man maximal Zeit hat, das Wort an einen Arzt oder eine Schwester zu richten. Immer noch besser, als sie mit einer Geiselnahme zum Bleiben und Zuhören zu bewegen.
Platz 3: Die Dulder und ihre Anverwandten. Von ihnen träumen Klinikkonzerne, wenn sie mal wieder über eine Personalkürzung nachdenken. Frei nach dem Fontane-Zitat »Alles verstehen heißt alles verzeihen« fallen diesen Ja-Sagern tausend gute Entschuldigungen dafür ein, weshalb der Arzt wieder nicht zugehört hat und die Schwester zwar bereits eine Stunde weiß, dass man mal auf die Toilette möchte, aber offenbar plant, einem zu einem neuen Weltrekord im Einhalten zu verhelfen. Auf keinen Fall wollen Dulder den gestressten Beschäftigten noch mehr Unbill verursachen. Deshalb sagen sie auch tapfer »Macht ja nichts!«, wenn der Arzt zum dritten Mal ihre Vene verfehlt oder man ihnen in zehn Tagen nicht einmal die Haare wäscht. So wie meine Mutter, die immer noch mit wirklich allen Mitgefühl hatte. Egal, wie fett der Bock war, der in ihrem Krankenzimmer erlegt wurde. Die immer fragte, ob wir den Schwestern auch wirklich etwas für die Kaffeekasse gegeben haben (»und hoffentlich nicht so wenig!«). Die stets meinte, wie hart der Beruf ist und wie sehr sie die bewundert, die ihn ausüben. Alle fanden sie wahnsinnig nett. Eine ziemlich gefährliche Einschätzung. Nicht umsonst schreiben die beiden amerikanischen Autoren und Medizinexperten Joe and Teresa Graedon auf ihrer Top-10-Liste der Dinge, die einen vor Medizinfehlern bewahren: »Freundlichkeit kann Sie umbringen.« [70]
Platz 4: Einzelkämpfer. Sie befinden sich ganz am Ende der Aufmerksamkeitsskala und genießen bisweilen kaum mehr Beachtung als die Bodenreform in Timbuktu. Ganz ohne Angehörige oder Freunde, die mal eben nachfragen, wie lange dem Patienten die Zähne nicht mehr geputzt wurden oder wann man gedenkt, die Bettwäsche zu wechseln. Wenn das Erbrochene schon hübsche kleine Schimmelmützchen trägt oder vielleicht schon vorher? Zumal, wenn sie alt UND einfach zu krank sind, um berechtigte Ansprüche anzumelden. Nicht auf irgendwelche Extraleistungen. Es geht um Selbstverständliches wie regelmäßige Mahlzeiten, Grundhygiene und pünktliche und korrekte Medikamentengabe. Schön wäre natürlich auch, jemand würde regelmäßig schauen, ob man noch atmet. Einfach bloß auf Mitleid und Verständnis zu hoffen, ist die denkbar ungünstigste Strategie im hektischen Klinikalltag. Dort muss man starke Reize setzen. Wir haben es in der Reha erlebt und
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