Sterben Sie blo nicht im Sommer
erleben es nun auch in der Strahlenklinik: Wo niemand da ist, der sich beschwert, der fordert, nörgelt, den Mund aufmacht, schön Wetter macht und lobt, da breiten sich die Versorgungslücken aus wie Fußpilz. Dort spart man sich die Zeit, die einem woanders mit sehr viel mehr Hartnäckigkeit abverlangt wird.
Ich lese, dass sich manche in der Krankenpflege versuchen, gleichgültig zu machen angesichts der Zumutungen des Klinikalltags, die Empathie ausschalten. Als innere Barriere gegen die Ohnmacht. Dieses »Coolout« befähige unmerklich, sich in einem defizitären Alltag einzurichten. [71] Man beginnt hinzunehmen, wogegen man angehen müsste. Bis man es eigentlich gar nicht mehr so schlimm findet, dass da einer seit Stunden in seinen vollen Windeln liegt oder dringend einmal umgelagert werden müsste. Solange er sich nicht beschwert …
An einem Abend fahre ich gegen 19 Uhr ein zweites Mal an diesem Tag in die Klinik. Es hieß, meine Mutter müsse zum Röntgen. Verdacht auf Lungenentzündung. Ich will sie in die Röntgenabteilung begleiten. Als ich in ihr Zimmer komme, ist sie nicht mehr da. Keiner weiß, wie lange sie schon weg ist und wann sie wieder zurückgebracht wird. Die Abteilung, in der meine Mutter nun sein soll, befindet sich im Hauptgebäude, ein paar Gehminuten entfernt von dem Haus mit der Bestrahlungsstation. Die Beschilderung ist so verwirrend, dass ich mich irgendwann in den Katakomben der Klinik wiederfinde und erst mal ewig durch menschenleere Gänge irre. Kurz überlege ich, ob hier vielleicht noch andere Angehörige sind, die es einfach nicht mehr bis nach draußen geschafft haben. Und ich habe ein wenig Angst, dass man die Tore dieser Unterwelt für die Nacht schließen könnte, bevor ich einen Ausgang gefunden habe. Zumal ich nicht mal telefonieren kann in diesem unterirdischen Funkloch. Schließlich entdecke ich die richtige Abteilung und endlich auch meine Mutter. Sie liegt in einem Nebenraum der Röntgenabteilung. Im Dunkeln. Ganz allein. Sie ist so froh, mich zu sehen. Sie sagt, sie hatte Angst. Sie fragt, weshalb sie hier ist und wieso man sie nicht zurückbringt in ihr Zimmer. Nebenan herrscht noch Hochbetrieb. Keiner hat Zeit, niemand weiß, wann meine Mutter wieder zurück gebracht wird. Ich warte eine halbe Stunde mit ihr, aber ich habe eine Verabredung mit einem handylosen Freund in der Stadt. Und ja: Ich halte sie ein, obwohl ich dafür meine Mutter in diesem dämmrigen Raum zurücklassen muss. Noch so ein Bleibebild: »Mutter alleingelassen!«
Die Bestrahlung arbeitet bei meiner Mutter mit beinharter Gründlichkeit so ziemlich alle Nebenwirkungen ab, die auf ihrem Beipackzettel angekündigt waren. Nichts lässt sie aus. Meine Mutter verliert büschelweise Haare, ihre Stirn ist wie von einem pelzigen Belag überzogen. Das Schlimmste aber ist eine Art Sterben-Generalprobe schon in der ersten Woche. Spätabends ruft die Ärztin an. Meine Mutter sei nicht »wiedererweckbar«. Mein zukünftiger Mann und ich fahren sofort ins Krankenhaus und treffen dort meinen Vater und meine Schwester. Wir stehen in diesem gleißenden Neonlicht um ihr Bett herum. Ich denke: Das ist also das Sterben. Und: Kann ja gar nicht sein. Ist unmöglich. Niemand sagt etwas. Worüber sollten wir hier auch sprechen? Dass dieses Jahr des Überlebens, das uns in Aussicht gestellt wurde, ein verdammt kurzes war? Ob wir nicht vielleicht noch einen Aufschub bekommen könnten? Bittebittebittebitte!! Möglicherweise ist es ja so das Beste für sie. Einfach weg sein. Mütter sterben vor ihren Kindern. Das ist der Plan der Natur. Meine Mutter würde das so sehen. Unbedingt. Nicht mal in Gedanken hätte sie sich ausmalen wollen, wie es wäre, den Tod eines ihrer Kinder zu erleben. Aber es geht ja hier nicht um entweder sie oder ich. Als Kind habe sie sich am liebsten ›hinterm Handtuchhalter‹ versteckt, hatte sie uns erzählt. Vielleicht ist sie ja gerade dort. Oder sie ist nun für die Ewigkeit in ihrem Kindertraum gefangen: Sie fällt von einem unbestimmten Oben ganz tief. »Manchmal konnte ich dann fliegen. Das war schön!«
Tatsächlich bewegt sie sich nun ein wenig. Ihr Atem wird regelmäßiger, sie scheint sich aus ihrer Bewusstlosigkeit sehr langsam weiter nach oben zu kämpfen. Die Ärztin erklärt, der Zustand meiner Mutter wäre vermutlich durch Wassereinlagerungen im Hirngewebe verursacht worden. Sie habe meiner Mutter Kortison gegeben, damit würde nun das zusätzlich eingelagerte Wasser aus dem
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