Sterben Sie blo nicht im Sommer
richtigen Maßstäbe von heute die grundfalschen für morgen sind. Wie will man wissen, ob man nicht später sehr viel mehr Freude daran empfindet, als man jetzt ahnt, überhaupt noch auf der Welt zu sein? Auch wenn man die bloß noch aus der Horizontalen und aus dem Fenster seines Pflegeheimzimmers betrachtet? Unfähig, aufzustehen, zu essen, zu trinken und es laut und deutlich zu sagen: »Darf ich meine Patientenverfügung noch mal umschreiben?« Möglicherweise, so wird argumentiert, wird einem das bisschen Leben gerade dann besonders kostbar erscheinen. Und belegen nicht Studien, dass es zu den menschlichen Grundirrtümern gehört, die Lebensqualität mit einer schweren Krankheit sehr viel niedriger einzuschätzen, als sie in der Situation tatsächlich empfunden wird? Wünschen Menschen vielleicht sogar nur deshalb im Vorfeld keine Lebensverlängerung durch Apparatemedizin, weil sie keine Ahnung davon haben, wie Verwandte, Nachbarn, Freunde und die Gesellschaft danach dürsten, das Bibelzitat »einer trage des anderen Last« in tätige Nächstenliebe umzumünzen? Wären also eine Patientenverfügung, eine Vorsorgevollmacht in diesem Zusammenhang nicht vor allem ein Misstrauensvotum an die Zukunft, die Angehörigen, vor allem aber an die Gesellschaft?
Als Gunter Sachs sich das Leben nahm (»Der Verlust der geistigen Kontrolle über mein Leben wäre ein würdeloser Zustand, dem ich mich entschlossen habe, entschieden entgegenzutreten.« [28] ) wurde diese Diskussion einmal mehr geführt. Es wurde gefragt, ob es sich bei seinem Selbstmord nicht um eine Panikreaktion gehandelt habe. Ob es nicht verantwortungslos und recht rüde sei, der Familie die Chance auf den letzten großen Liebesdienst, eine fürsorgliche Pflege, zu nehmen und ihr damit zu unterstellen, sie wäre dazu nicht in der Lage oder bereit gewesen. Es wurde darüber spekuliert, wie Gunter Sachs mit mehr Geduld und mehr Zutrauen in sein Umfeld noch sehr viel Gefallen hätte finden können an seinem Dasein. Auch mit Alzheimer. Ich fand das ärgerlich und von ebendieser Selbstherrlichkeit getränkt, die man ihm unterstellte.
Sicher kann man voraussetzen, dass Gunter Sachs ordentliche Pflege erhalten hätte. Aber wer will es ihm, noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, verdenken, die Koordinaten seiner letzten Jahre festlegen zu wollen? Und für all diejenigen, die nicht über ein Millionenvermögen verfügen: Nein, es ist eben kein Verlass auf die Gesellschaft. Es wäre nach allem, was wir mit meiner Mutter erleben, im Gegenteil hochriskant, sich von kerngesunden und finanziell bestens ausgestatteten Talkshow-Gästen einreden zu lassen, so ein komatöser Zustand im Pflegeheim könnte am Ende doch gar nicht so übel sein. In einer perfekten Welt, in der allen nichts mehr am Herzen läge als mein Wohlbefinden, meine Autonomie, meine Würde und nicht die 3.400 Euro, die eine Pflegestufe III einem Pflegeheim bringt (umso mehr, als sich der Pflegeaufwand mit PEG , Bettlägerigkeit und Windeln mit dem Fassungsvermögen von Gießkannen in Grenzen hält), wäre das zu bedenken. In einem Land aber, in dem die Privatisierung von Kliniken so rasant voranschreitet wie sonst nirgends auf der Welt, wo Gewinnmaximierung zunehmend vor Menschlichkeit geht, ist die Hoffnung, man ließe mich mit meinen Druckgeschwüren, meiner Unterernährung im wahrsten Sinne des Wortes nicht im eigenen Saft schmoren, ähnlich spekulativ wie die auf die 72 Jungfrauen, die im Paradies angeblich exklusiv für islamistische Selbstmordattentäter reserviert sein sollen. Ein bisschen Misstrauen ist da durchaus angebracht. Und ganz sicher gibt es ausreichend Gründe, die Deutungshoheit über das, was wir uns unter einem Sterben mit Würde vorstellen, nicht anderen zu überlassen, die davon keine Ahnung haben. Ganz einfach, weil sie kaum mehr von uns wissen (wollen), als in eine Krankenakte passt.
Überhaupt das Beurteilen von Lebensqualität: Während man es uns Laien kaum zutraut, eine Aussage etwa darüber zu treffen, wie wir uns wohl mit einem schweren Schlaganfall fühlen werden, hat man im Gesundheitssystem keine Probleme damit, solche Prognosen zu wagen. Dort heißt es nicht: »Wer weiß, vielleicht wird es auch mit einem unheilbaren Krebs und mit Aussicht auf einen nahen Tod sehr glückliche Momente geben, deshalb finanzieren wir Ihnen jetzt das Krebsmittel, auch wenn es Ihnen vielleicht ›nur‹ sechs weitere Monate bringt und so teuer ist wie ein Kleinwagen – wöchentlich!«
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