Sterben War Gestern
Tischnachbarin gekannt habe, habe ich mir erlaubt, ein wenig, sagen wir mal, zu recherchieren. Mir ist vollkommen klar, dass ich dabei meine Befugnisse überschritten habe und mich der Fall im Grunde nichts angeht. Es ist nur so, dass ich auf der Suche nach Ellen Weyer, die seit gestern spurlos vom Erdboden verschwunden ist, auf einige seltsame Zusammenhänge gestoßen bin.“
In wenigen Sätzen schilderte die Berliner Hauptkommissarin ihrer Rostocker Kollegin, was sie wusste.
„Mein Instinkt sagt mir, dass hier etwas nicht stimmt. Ich kann damit natürlich vollkommen falsch liegen und sämtliche Pferde scheu machen. Oder aber ich habe recht, und Ellen Weyer ist entweder die Täterin oder sie weiß, wer der Täter ist. Dann ist sie vermutlich in Gefahr. Sie werden entscheiden, was Sie mit meinen Überlegungen machen. Und mit den Ergebnissen meiner Detektivarbeit.“ Sie sah ihre Kollegin ernst an und gab ihr zu verstehen, dass sie am Ende ihrer Ausführungen war.
Sylvia Eberstätter hatte Inge Nowak schweigend zugehört. Es war nicht notwendig gewesen, Zwischenfragen zu stellen, die Hauptkommissarin hatte ganz von selbst sämtliche aufkommenden Fragen beantwortet, mögliche Zweifel in Betracht gezogen und logische Zusammenhänge hergestellt. Die Jüngere war von der Älteren beeindruckt. So, hatte sie sich immer vorgestellt, müssten Ermittlungen laufen, genau diesen Enthusiasmus vermisste sie bei Erich Werle, und so leidenschaftlich neugierig wie Inge Nowak, die es offenbar selbst in der Klinik nicht lassen konnte, der Wahrheit auf den Grund zu gehen, war sie, Sylvia, auch. Wenn es um das Retten von Menschenleben ging, fühlte sich die Oberkommissarin berufen. Doch im Moment machte ihr die ganze Situation vor allem eines: Angst. Denn sie wollte auf gar keinen Fall das Falsche tun oder das Richtige unterlassen.
„Sie waren sehr ehrlich, Frau Nowak, dann bin ich es jetzt einfach auch. Wenn es nach mir ginge, würde ich sofort nach der Verschwundenen suchen lassen. Doch das wird meinem Chef nicht gefallen. Erich Werle ist ein Meister der Vorverurteilung. Er verfolgt die erstbeste Spur, und oft gibt ihm der Zufall oder die Banalität der Tat recht. Es wird ihm gegen den Strich gehen, sich mit einer weiteren Verdächtigen zu beschäftigen und von seinem Lieblingstäter abzuweichen. Im Moment ist er gerade in München, um Beweise dafür zu finden, dass es der Ehemann war.“
„Was soll der denn für ein Motiv gehabt haben?“
„Klassisch: Werle denkt, Esser hatte eine Geliebte und wollte sich seiner depressiven Frau entledigen.“
„Das ist nicht klassisch, das ist einfallslos. Wenn es so war, hat der Mann seine Überraschung ziemlich gut gespielt. Ich habe gesehen, wie er reagiert hat, nachdem er vom Tod seiner Frau unterrichtet worden ist.“
„Meine Rede.“ Sie überlegte einen Moment, dann fragte sie: „Was würde Ihr Kollege an meiner Stelle jetzt tun?“
„Mir erzählen, was ihm berichtet worden ist.“ Inge Nowak kramte in ihrer Jacke, die über der Stuhllehne hing, und zog die beiden Briefe hervor. „Allerdings würde er wahrscheinlich behaupten, das da selbst aus dem Briefkasten gezogen zu haben. Um seine Quelle zu schützen.“
„Würden Sie ihm glauben?“
„Ich glaube meinen Mitarbeitern alles.“
„Das ist bei meinem Chef anders. Aber egal. Er wird sowieso nichts unternehmen und sauer sein, wenn ich eigenmächtig handle. Er traut uns nicht besonders viel zu. Aber ich tue, was ich kann. Im Moment kann ich ihn nicht erreichen. Soll ich Ihnen Bescheid geben, wenn ich mit ihm gesprochen habe?“
„Nein. Ich habe mich schon viel zu viel mit der ganzen Angelegenheit beschäftigt. Aber ich wollte mir nicht irgendwann vorwerfen müssen, wider besseres Wissen gehandelt zu haben.“
„Darf ich Sie etwas Persönliches fragen?“
„Warum ich mich in Ihren Fall einmische?“
„Nein. Weshalb Sie in der Klinik sind.“
„Was tut das zur Sache?“ Ein Fehler. Es war ein Fehler gewesen, zu glauben, sie könne auf die Kompetenz und Diskretion einer so unerfahrenen Kollegin bauen. Natürlich würden sie ihr eine psychische Störung anhängen wollen, wahrscheinlich eine paranoide Ader, die in obsessiver kriminalistischer Tätigkeit begründet wäre. Morgen stünde Erich Werle vor ihrer Tür und würde ihr einen Vortrag über Kompetenzüberschreitung halten und die ganze Angelegenheit womöglich Kriminalrat Frickel melden. Und zu allem Überfluss war sie rockermäßig mit einem Mitpatienten auf
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