Sterben War Gestern
Ein paar Ideen dazu hätte ich schon. Ruf mich doch einfach an und lass uns das bei einem Kaffee besprechen, okay?
Pass gut auf dich auf (und das meine ich so!),
L.
Inge ließ ihre Augen über die geschwungenen blauen Buchstaben schweifen, als könnte ihr das Schriftbild etwas über den Menschen verraten, der die Worte niedergeschrieben hatte.
„Klingt nach leichter Selbstüberschätzung“, sagte Ewald. „Passt zu ihr.“
„Wieso?“
„Ich hab mich am Donnerstag länger mit ihr unterhalten. Nachmittags am Strand. Wir haben uns über Führungsstile unterhalten. Wegen Professor Welp. Sie findet ihn total toll. Ellen hat BWL und Journalismus studiert und unglaublichen Unsinn über Unternehmensführung und Projektmanagement verzapft. Tun die alle in dem Alter.“
„Woher weißt du das?“
„Ich gehöre zu denen, die solche Schlaumeier einstellen und umerziehen müssen. Sie kommen frisch von der Uni und lernen als Trainees, wie die Wirklichkeit aussieht. Bei uns ist das für die meisten Hochschulabsolventen ein echter Schock. Risiko-Assekuranz ist ein knallhartes Geschäft. Da musst du was von Zahlen und Menschen verstehen, vom richtigen Leben, und klug verhandeln können. Soft Skills und soziale Kompetenz sind nicht einfach Zusatzqualifikationen, sondern logische Voraussetzungen, die man mitbringen muss. Von dem technischen Know-how mal ganz abgesehen. Und bei sogenannten richtig dicken Fischen sind keine schicken Powerpoint-Präsentationen gefragt, sondern vertrauenswürdiges Vorrechnen mit Bleistift auf Papier. Die Trainees, die ich übernommen habe, kannst du an einer Hand abzählen. Unter anderem, weil das Gros mir schon in den ersten Wochen mit ihrer Besserwisserei auf die Nerven gegangen ist.“ Er winkte ab. „Ellen ist auch eine kleine Diva. Ziemlich von sich selbst überzeugt, hält sich für eine große Wissenschaftsjournalistin, kulturbeflissen und geweiht für Höheres. Ich denke, sie sieht sich in zehn Jahren als leitende Redakteurin bei einem angesehenen Wochenmagazin.“
„Und was ist dagegen einzuwenden?“
„Sie hat das Zeug nicht dazu. Sie ist nicht überdurchschnittlich begabt.“
„Das willst du nach einem Tag einschätzen können?“
Er lächelte. „In meinem Job muss ich innerhalb von Minuten einschätzen können, ob ich auf eine Person eine Million setze oder nicht. Und ich glaube, ich kann das nach fast zwanzig Jahren ganz gut.“
„Und das ist keine Selbstüberschätzung?“ Inge Nowak zog die Augenbrauen hoch.
„Nein, das ist mein USP.“
„Dein was?“
„U nique selling proposition , also mein Alleinstellungsmerkmal. Gilt in der Welt des Marketings und in der Verkaufspsychologie als herausragendes Leistungsmerkmal. Das, was mich von meinen Mitkonkurrenten positiv unterscheidet.“
„Aha. Und was sagt deine sensationelle Menschenkenntnis über die unbekannte Person, die sich hinter L. verbirgt? Und vor allem: Was wollte Ellen von ihr, was sich L. nicht zutraut?“
„Kooperation bei einem Projekt. Multimediale Berichterstattung bei einem großen Event, Pressearbeit für einen Promi, ein Marketingauftrag, eine gute Idee, mit der sie viel Geld verdienen will. Etwas, von dem Ellen total überzeugt war, es zu schaffen, und L. nicht.“
„Vielleicht kann uns ihr Freund, der Fotograf, etwas darüber sagen?“
„Und wie finden wir den?“
„Wir probieren es mit Idiotenglück: Vielleicht ist er ja gerade in der Redaktion.“ Inge zeigte auf das Eckhaus, das schräg gegenüber dem Café lag und an dessen Fassade in großen blauen Lettern Ostsee-Tagblatt angeschlagen war.
„Und was sagen wir?“
„Die Wahrheit, natürlich.“ Inge Nowak zog einen Fünf-Euro-Schein aus ihrem Portemonnaie und steckte ihn unter die Klammer, von der auf einem Tellerchen bereits die Rechnung vom Davonfliegen abgehalten wurde. „Komm.“
Am Empfang zeigte Inge Nowak ihren Dienstausweis vor, den sie entgegen Verónicas Ratschlag mitgenommen hatte.
„Du brauchst ihn dort nicht. Und wenn du ihn brauchst, bist du in Schwierigkeiten, in die du ohne ihn nicht kommen würdest.“
Nun brauchte sie ihn und von Schwierigkeiten konnte noch keine Rede sein. Die Empfangsdame machte trotz ihres jugendlichen Alters den Eindruck einer versierten Sekretärin und fragte telefonisch nach, ob Herr Wiskamp im Hause sei. Nach drei Versuchen, bei denen zweimal offenbar niemand den Hörer abnahm, stellte sich heraus, dass man händeringend auf den Fotografen wartete, da er Fotos für die nächste
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