Sterben War Gestern
Es war kein bloßes Begehren, er hätte nicht aufstehen können, um sich ihrem Körper zu nähern. Im Gegenteil. Er wollte sie genau dort, wo sie war, um sie betrachten zu können. Mit ihm reden sollte sie, ihre Stimme wollte er hören, sie klang wie Musik in seinen Ohren.
„Werden Sie mich gleich rauswerfen?“
Sie schwieg.
Sein Herz schlug schneller. War er gerade dabei, sich vollständig zum Idioten zu machen?
„Ich bin nicht zu haben für eine Nacht“, sagte sie schließlich und schaute ihn dabei so ernst an, dass er nicht sicher war, was sie ihm damit sagen wollte.
„Und für zwei?“ Werle, dachte er, du bist verrückt geworden. Jetzt wird sie dich hinauskomplementieren.
„Schon eher.“ Helene Teuber machte weder Anstalten, auf ihn zuzukommen, noch, sich von ihm zu entfernen. Sie blieb einfach sitzen, wo sie war, und betrachtete ihn. „Aber nicht einfach so.“
„Nicht einfach wie?“
„Nicht aus Langeweile oder weil sich die Gelegenheit gerade ergibt.“
„Sondern?“
„Weil ich jemanden mag.“
Sie lag ihm auf der Zunge, die Frage, aber er biss darauf herum, bis sie unkenntlich war. Er betrat mit ihr absolut verbotenes Terrain. Sie gefiel ihm, alles, was sie tat und sagte, gefiel ihm.
„Und dich“, fügte sie leise hinzu, „dich mag ich irgendwie.“
„Ich dich auch.“
„Dann ist es noch schlimmer, als ich dachte.“
„Ja“, erwiderte er, „das ist es.“
Sie würden sich bis zum Morgengrauen nicht berühren. Sie würden etwas tun, was Erich Werle noch nie mit einer Frau wirklich getan hatte. Sie würden einander kennenlernen.
Und noch etwas war ungewöhnlich für den Kriminalhauptkommissar aus Rostock: Er meldete sich noch in dieser Nacht per SMS krank, ohne auf die Anrufe zu achten, die er wissentlich verpasst hatte. Danach stellte er sein Handy einfach aus.
Oberkommissarin Eberstätter fuhr einen Kleinwagen, der diesen Namen wirklich verdiente. Die Rückbank mit Kindersitz war übersät mit Stofftieren, Bilderbüchern und allerlei Musikkassetten. Auf dem Beifahrersitz lagen ein paar Kleidungsstücke, die die Fahrerin schwungvoll nach hinten warf.
„Sagen Sie nichts, ich bin alleinerziehende Mutter.“
„Ich weiß, das kenne ich.“
„Sie haben auch Kinder?“
„Eine erwachsene Tochter. Aber ich kann mich noch gut an das Chaos erinnern, bis sie alt genug war, um zu verstehen, dass Ordnung keine Strafe ist, sondern ein praktisches Prinzip, um Dinge wiederzufinden.“
„So weit ist Patrick noch nicht. Er steckt noch in der Phase, in der er glaubt, seine Mutter sei verantwortlich, wenn sein Kuschelhase nicht aufzufinden ist.“
„Das ist keine Phase, das ist etwas Grundsätzliches, das hört eigentlich nie auf.“
Sie fuhren langsam durch die einbrechende Dunkelheit. Inge schaute auf die Uhr.
„Keine Angst, wir kommen rechtzeitig. Und außerdem, Sie wissen ja: Wir dürfen fast alles.“
„Sie dürfen das. Ich bin überhaupt nicht im Dienst.“ Dabei fühlte es sich ganz anders an. Sie hatte einen anstrengenden Tag verdeckter Ermittlungen hinter sich, ein Manövergespräch in der Kneipe, und die Hälfte ihres Gehirns war damit beschäftigt, die noch unförmigen Puzzleteilchen an ihren richtigen Platz zu schieben. So sehr sie sich auch bemühte, Ellen Weyer ging ihr nicht aus dem Kopf.
„Und wenn Sie im Dienst sind – macht Ihnen der Job noch Spaß?“
„Wieso noch?“
„Ich schätze, Sie sind schon eine Weile dabei, oder?“
„Lange, ja. Vielleicht zu lange.“ Sie räkelte sich ein wenig in dem unbequemen Autositz und streckte ihre Beine aus. Seit sie vom Tisch aufgestanden war, fuhr ihr Kopf ein wenig Karussell und ihre Gliedmaßen kribbelten. Untrügliches Zeichen für Stress. „Früher dachte ich, das macht mir alles nichts aus und ich könnte mir das Leid der anderen vom Leib halten. Aber inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher, ob mein Panzer jemals so dick war.“ Sie seufzte. „Aber trotzdem mache ich die Arbeit gern. Es ist jedes Mal eine neue Herausforderung, starten bei null. Klüger und schneller zu sein als mein Gegenspieler, mich in einen anderen Geist hineindenken, auch wenn er vollkommen anders funktioniert als mein eigener und natürlich: gewinnen. Wenn ich mir so zuhöre, würde ich fast sagen: Ich nehme es sportlich.“
„Gute Einstellung.“ Und warum, dachte Sylvia, bist du dann hier gelandet?
„Hat auch fünfundzwanzig Jahre gut funktioniert.“ Sie sah aus dem Fenster auf dunkle Felder. Vereinzelt konnte sie kleine
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