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Sterben War Gestern

Sterben War Gestern

Titel: Sterben War Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corinna Waffender
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Leidenschaft der ersten Monate war längst vorbei und auch die Zugewandtheit der ersten Jahre. Sie hatten sich aneinander gewöhnt, und vermieden Konflikte so gut es ging. An ihren freien Tagen, die sie oft wegen der unterschiedlichen Dienstpläne nicht miteinander verbrachten, kümmerten sie sich um den Haushalt, die Wäsche, das Auto, den Einkauf. Nur einmal im Jahr drehten die beiden Frauen die Zeit zurück und vollbrachten das Kunststück, so zu tun, als hätten sie sich gerade kennengelernt. Dann fuhren sie dorthin, wo sie einander zehn Jahre zuvor begegnet waren, und feierten so etwas wie Hochzeitstag im andalusischen Granada. Waren Momente lang glücklich. Oder glaubten zumindest, es zu sein.
    Ob sie es dieses Jahr wieder täten? Wie lange würde sie wohl hier bleiben müssen, wie lange würde es dauern, bis sie wieder so etwas wie ein normales Leben führen könnte? Und wäre Verónica dann noch an ihrer Seite?
    Über diesem Gedanken schlief Inge Nowak endlich kurz nach Mitternacht ein, ohne zu bemerken, dass sie zum ersten Mal eine Rückkehr zur Normalität überhaupt in Betracht gezogen hatte.
    Das Haus lag etwas abseits des Dorfes und hinter einem Garten versteckt, der von hohen Büschen umgeben war. Frauen tötete er weniger gern als Männer, er war überzeugt davon, dass ihm das Unglück brachte. Kinder rührte er grundsätzlich nicht an. Deshalb war er froh, als Vater und Tochter in Sportbekleidung aus dem Haus kamen und in Richtung Felder liefen. Bis sie wiederkämen, hätte er seinen Job erledigt. Eigentlich nahm er solche Last-Minute-Aufträge nicht an, er bevorzugte akribische Planung und perfekte Ausführung. Genaue Recherche, richtige Zeit, optimaler Ort. Vor allem aber: diskrete Liquidation. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn er dem Mädchen, das vielleicht so alt war wie sein jüngster Sohn, den Anblick hätte ersparen können. Er konnte nur hoffen, dass der Vater Manns genug wäre, das Kind schnell von der toten Mutter fortzubringen.
    Er betrat das Haus durch die weit geöffnete Balkontür. Einmal drinnen, ging alles ganz schnell. Durch die dunkel getönte Sonnenbrille erschien ihm die Einrichtung seltsam kühl, es gab kaum Bilder an der Wand, und die Frau selbst wirkte eigenartig abdekoriert. Als fehlte ihr Farbe oder Schmuck oder Schminke. In aller Regel dachte er nicht lange über seine Opfer nach und er vermied es auch, mit ihnen zu reden. Diesmal ließ es sich nicht vermeiden.
    „Ich will nur eins und das innerhalb von dreißig Sekunden: den USB-Stick Ihrer Schwester.“ Er sagte das sehr ruhig, doch seine Stimme verriet, dass es für sie keinen Anlass zur Entspannung gab.
    Die sechsunddreißigjährige Anwältin begriff sofort und ihr Blick glitt über den Messerblock in der Küche.
    „Vergessen Sie das ganz schnell.“ Er lächelte beinahe charmant. „Sie haben noch fünfundzwanzig Sekunden. Die Zeit läuft.“
    „Da drüben“, sagte sie und deutete auf einen Sekretär im Wohnzimmer. Er bugsierte sie mit der Waffe dorthin, sah ihr zu, wie sie eine Schublade aufzog, und wartete geduldig, bis sie einen Umschlag herausholte und ihm zitternd hinhielt.
    „Nur den Stick.“
    Bei dem Versuch, ihn zu öffnen, fiel der Umschlag zu Boden.
    „Aufheben.“
    Sie gehorchte und zog einen kleinen silbernen Datenträger heraus, der an einem blauen Bändchen hing.
    „Auf die Tischplatte legen.“
    Er hielt die Waffe auf sie gerichtet und ließ sie nicht aus den Augen, während er sich näherte, um den Stick einzustecken.
    „Gibt es eine Kopie davon?“
    Sie schüttelte den Kopf. Ihr Herz raste vor Angst, er wusste, dass sie nichts riskieren würde.
    Seine Augen regten sich nicht, als er sagte: „Wenn Sie lügen, töte ich Ihre Tochter.“
    „Nein!“, rief sie schrill. „Es gibt keine Kopie. Ich habe den Brief erst gestern bekommen, der Stick war die ganze Zeit in dem Umschlag. Wirklich!“
    Sein Blick fiel auf einen Stuhl, der unweit von ihm stand.
    „Hinsetzen!“, befahl er.
    Lydia Kronberg setzte sich. Ihre Beine zitterten, in ihrem Kopf stolperten unfertige Gedanken übereinander, ihr war leicht übel. Sie schloss die Augen kurz und öffnete sie wieder. Das Letzte, was sie sah, war eine lilafarbene Iris im Garten, die ihr die Zunge herauszustrecken schien.
    Einmal quer durch den Wald, über Wurzeln, Äste und Steine und zurück dicht am Wasser, durch feuchten Sand – danach war Inge fast ohnmächtig geworden vor Erschöpfung. Wenn sich so ihr neues Leben anfühlen sollte, wollte sie

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