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Sterben War Gestern

Sterben War Gestern

Titel: Sterben War Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corinna Waffender
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letzten Tage vermischten sich, die Stimmen, die Orte, das ganze Gemenge neuer Eindrücke schwirrte in ihrem Kopf kreuz und quer. Doch zwischen all den wirren Gedanken, schob sich einer immer wieder beharrlich nach vorne: Weshalb war Ellen Weyer verschwunden?
    Wenn sie tatsächlich die Mörderin von Angela Esser war, weshalb hatte sie dann mit ihr sprechen wollen? Ein Geständnis am Telefon? Unwahrscheinlich. Warum war auch ihr Freund verschwunden? Eine gemeinsame Flucht? Dann hätte er, um keinen Verdacht zu erwecken, vorher seine Fotos in der Redaktion abgegeben. Und sie hätte nicht just eine Mitarbeiterin der Zeitung versetzt. Viel wahrscheinlicher war, dass Ellen Weyer etwas wusste und es ihr aus Angst hatte anvertrauen wollen. Oder hatte das eine mit dem anderen gar nichts zu tun? Hatte tatsächlich der Ehemann von Angela Esser seine Frau getötet und war auch Ellen Weyer Opfer eines Beziehungsdramas geworden? Oder Jens Wiskamp? Oder hatten beide etwas mit L. zu tun? War L. Lydia? Waren sie tatsächlich in eine große Sache hineingeraten, vor der sie nun davonlaufen mussten? Was konnte das sein, dass der Fotograf seinen Job riskierte und die Journalistin ihren kranken Nachbarn vergaß? Oder sah Inge Gespenster? Am Ende war bereits alles in bester Ordnung, die Bilder von Wiskamp wurden gerade gedruckt, Ellen und Jasmin saßen bei einem Cocktail in einer hippen Rostocker Bar, und sie, Inge Nowak, hatte ihre Kollegin ganz umsonst verrückt gemacht.
    Sie hatte Sylvia Eberstätter auf den ersten Blick gemocht, weil sie etwas Bodenständiges ausstrahlte. Obwohl sie nicht viel größer war als Inge, wirkte sie mächtiger, was an ihrer Figur lag. Einerseits machte sie einen fast fragilen Eindruck: schmale Finger, lange Beine, feine Wangenknochen. Andererseits stachen bestimmte Merkmale beinahe wuchtig an ihr heraus: breite Schultern, eine auffällig große Nase und große Augen. Sie waren vielleicht das Auffälligste, denn abgesehen davon, dass sie von schönem Blau waren, sah man ihnen ihr Alter an. Winzige Fältchen umgaben sie und dehnten sich an den Augenwinkeln bis fast zu den Schläfen aus. Auf seltsame Weise schienen die halblangen blonden Haare nicht zu diesem eher grob modellierten Gesicht zu passen, schon gar nicht zu der dunklen, rauchigen Stimme. Alles Äußerliche an dieser Frau schien überdeutlich, und doch wirkte sie auf Inge keineswegs aufdringlich. Geerdet, das war sie, als könnte nichts sie umwerfen. Sympathisch.
    Seit Inge mit Verónica zusammen war, hatte sie sich für andere Frauen nicht interessiert. Und noch viel weniger hatte sie sich die Frage gestellt, ob ihre Partnerin die Einzige wäre, zu der sie sich hingezogen fühlen könnte. Auch die Oberkommissarin aus Rostock nahm sie nicht unter erotischen Gesichtspunkten wahr. Dennoch erinnerte sie sich jetzt an ihr erfrischend offenes Lachen und ihre eindringliche Art zu sprechen. Wie lange war es her, dass Inge mit anderen irgendwo gesessen und einfach nur geredet hatte? Nicht gegen die Erschöpfung, sondern ihr zum Trotz. Bereits vor der Katastrophe war es kaum vorgekommen, dass sie ausging, im Kino Gummibärchen kaute oder einfach durch einen Park lief. Schon lange strengten soziale Ereignisse sie an. Selbst die regelmäßigen Abendessen mit Verónica beim Italiener um die Ecke waren eher dem Unvermögen geschuldet, unter der Woche einzukaufen und zu kochen, als dem Wunsch sich zu unterhalten – schließlich hatten sie fast immer über die Arbeit gesprochen. Berichteten einander von ihren Ermittlungen, von fehlenden Spuren, zwielichtigen Zeugen und uneinsichtigen Verdächtigen, und wenn es der Zufall wollte, dass Verónica einer Untersuchung zugeteilt wurde, die Inge leitete, sprachen sie darüber. Sonst hatten sie einander nicht mehr viel zu sagen. Es war, als ginge ihnen die Kraft aus, wenn sie nicht über Mord und Totschlag sprechen konnten, als wären die einzigen Reserven, über die sie noch verfügten, dazu da, den immerwährenden Dialog zwischen zwei Kriminalbeamtinnen aufrechtzuerhalten.
    Kaum waren sie zu Hause, schalteten sie den Fernseher ein, schenkten sich ein weiteres Glas Rotwein ein, verschwanden zuerst in fremden Geschichten und dann in getrennten Schlafzimmern. Hin und wieder kam es vor, dass die eine der anderen die Füße massierte, eine von beiden badete und die andere bat, ihr danach den Rücken einzucremen, und selten, aber vor dem Attentat immerhin noch dann und wann, gingen sie zusammen ins Bett und liebten sich. Die

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