Sterben War Gestern
Handschuhe und Plastikschutz für die Schuhe. Währenddessen schaute sich Inge in dem stilvoll eingerichteten Wohnzimmer um. Den Kronbergs schien es finanziell nicht schlecht zu gehen. Multimediale Markengeräte, eine großzügige Sofalandschaft, teure Teppiche.
„Wo ist der Rest der Familie?“
„Ihr Mann hat sie gefunden, als er vom Joggen kam. Seine Tochter war noch draußen im Garten. Er hat sie geistesgegenwärtig nicht ins Haus gelassen und ist, nachdem er die Polizei gerufen hat, mit ihr zu den Großeltern gefahren, die hier in der Nähe wohnen. Es ist schon eine Streife unterwegs, ihn herzubringen.“
Inge streifte sich die Plastikschuhe über und trat näher an die Leiche heran. Dann stockte sie.
„Herr Hoffmann?“
„Frau Nowak! Das ist aber eine schöne Überraschung, dich hier zu treffen! Ist unsere Leiche so wichtig, dass man uns den Adel in die Provinz schickt?“
Beide lachten und schüttelten sich aus gegebenem Anlass nicht die Hände. Sie kannten einander von einem Fortbildungsseminar in Hamburg, auf dem die Kriminalhauptkommissarin mit dem Rechtsmediziner eine halbe Nacht verbracht hatte. Sie hatten sich am frühen Abend vom Rest der Gruppe abgesetzt und bei gutem spanischen Rotwein in einer schummrigen Bar bis zum Morgengrauen über das Wesen des Todes gesprochen. Es musste mindestens vier Jahre zurückliegen, und Inge wunderte sich ebenso sehr, den Hamburger Rechtsmediziner hier anzutreffen, wie er erstaunt war, der Hauptstadtermittlerin zu begegnen.
„Ich schätze, die Klärung unserer Aufenthalte fern der Heimat verlegen wir an einen nahegelegenen Tresen“, schlug Inge Nowak vor, und er stimmte sofort grinsend zu.
Sylvia Eberstätter beobachtete diese Szene mit einem gewissen Unbehagen und sie konnte nicht genau sagen, was ihr mehr missfiel: die Vertraulichkeit zwischen Hoffmann und Nowak, oder dass es ersichtlich war, dass sie einander mochten. Zu allem Überfluss duzten sie sich auch noch.
„Und, was sagst du?“
„Ein Profi?“
„Definitiv.“
„Kopfschuss?“
„Nacken. Fast aufgesetzt, ruhige Hand, perfekte Waffe, langer Lauf mit Schalldämpfer. Kugel versenkt.“
„Auftragsmord?“
„Klassisch. Ohne Vorwarnung.“
„Dann sind wir uns ja einig.“
Nun war er an der Reihe zu fragen: „Hast du schon eine Idee, wer es bezahlt hat?“
„Nicht wirklich.“ Inge Nowak hob vorsichtig den wattierten Briefumschlag vom Boden auf und las den Absender. „Es könnte etwas mit dem Inhalt dieses Briefes zu tun haben.“ Und mit Blick zu Sylvia Eberstätter: „Er ist von Ellen Weyer.“
„Wann ist er abgestempelt?“
Sie nahm die Briefmarke genauer unter die Lupe. „Freitag.“
Gert Hoffmann hatte seinen Koffer zusammengepackt und stellte sich zwischen die beiden Kommissarinnen.
„Wer von euch beiden will denn am liebsten gestern alles über das Opfer wissen? Und wo ist überhaupt unser aller Glück und Sonnenschein Erich Werle?“
Die Oberkommissarin lächelte vielsagend. „Er ist krank in München, und sie ist meine persönliche …“
„… Begleitung“, ergänzte Inge. „Ich bin bloß auf Urlaub. Hotel Seerose .“
„Seerose, Seerose – was muss mir das sagen?“, sinnierte er. „Ist das nicht die Klinik, wo wir am Freitag in Asche gewühlt haben?“
„Du sagst es.“
„Bist du krank?“
„Ausgebrannt.“
„Das wäre die Leiche dort auch fast gewesen.“ Er hob sofort beschwörend die Hände. „Ich weiß, ich weiß, mein angeblich mangelnder Respekt vor dem menschlichen Ableben – tut mir leid, ist mir rausgerutscht. Aber du kennst ja meine Haltung.“
„Der Kollege Hoffmann hat mir einmal ausführlich versucht zu erklären, dass er das Sterben umso mehr achtet, je mehr er darüber lachen kann“, erläuterte Inge Nowak ihrer Kollegin, und ihm erwiderte sie: „Du bist herzlich eingeladen, bei einem alkoholfreien Bier diesbezüglich in den nächsten drei Wochen etwas mehr in die Tiefe zu gehen. Zimmer 101, um 22.00 Uhr ist allerdings Bettruhe.“
„Gerne, ich melde mich.“ Seiner Rostocker Kollegin rief er im Hinausgehen zu: „Und Sie rufe ich an, sobald ich mit der Obduktion fertig bin, okay?“
Sie nickte, und die Art, wie sie ihm nachsah, verriet Inge Nowak, dass die Oberkommissarin offenbar wenig über den Rechtsmediziner wusste: Dr. Gert Hoffmann war verheiratet. Und zwar mit einem Berliner Chirurgen.
Ein Mann mittleren Alters in schickem Trainingsanzug und strahlend weißen Turnschuhen kam in Begleitung von zwei uniformierten
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