Sterben War Gestern
bereit, ihn anzuheuern, dann zahlte er, und wer das nicht konnte, tat es selbst und brachte sich danach um. Der Mann am anderen Ende würde das allerdings niemals tun. In seiner Position überlebte man alle.
Sergej behielt das Telefon in der Hand und döste noch ein wenig weiter. Dann drehte er sich zu seiner Frau auf der Liege neben ihm und zog ihr sanft einen Kopfhörerstöpsel aus dem Ohr.
„Sweetie, tomorrow I have to work. You’ll stay here and enjoy yourself, okay? We’ll meet on Monday in London.“
Inge hatte Verónica angelogen und sie schämte sich dafür. Den lustigen Nachmittag in Rostock mit einer Gruppe von Mitpatienten hatte es nicht gegeben, selbst die Motorradfahrt hatte sie verheimlicht, obwohl es dafür gar keinen Grund gegeben hatte und ihre Freundin sicher begeistert davon gewesen wäre. Aber Inge Nowak war in einer anderen Welt angekommen und auf seltsame Weise hatte Verónica darin keinen Platz. Hatte sie sich noch zwei Tage zuvor nicht vorstellen können, ohne sie zu sein, war ihr jetzt bereits ein Telefongespräch zu viel. Inge hätte nicht genau sagen können, warum, nur einem Gefühl Ausdruck geben, das zwischen Wut und Furcht lag. Tief in ihr schmerzte etwas, drängte an die Oberfläche und sie spürte, dass die Nähe zu Verónica es verhinderte. Außerdem war sie sicher, dass die Freundin nur anrief, weil sie sich dazu verpflichtet fühlte. Sie musste froh sein, endlich ihre Ruhe zu haben. So wie Inge auch?
Gäbe es tatsächlich so etwas wie Vertrauen zwischen uns, dachte die Hauptkommissarin, dann hätte ich ihr alles erzählt und gesagt: Tu mir doch den Gefallen und lass Ellen Weyer und Jens Wiskamp schnell durch den Computer laufen. Aber das war undenkbar. Verónica hätte ihr nichts als Vorwürfe gemacht, sie behandelt wie ein kleines, ungezogenes Kind und bei jedem Telefonat sicherstellen wollen, ob sie tatsächlich aufgehört hätte, auf eigene Faust zu ermitteln. Früher wäre das anders gewesen. Als Inge Nowak noch die erfolgreiche Chefermittlerin war und bekannt für ihre mitunter starrköpfige Hartnäckigkeit, hätte Verónica verstanden, dass es für ihre Lebensgefährtin niemals eine Pause von der Verbrechensaufklärung geben konnte. Für Inge Nowak war ihr Beruf eine Berufung, und selbst in den letzten Monaten vor der Klinikeinweisung hatte sie einen Täter nach langer und mühevoller Ermittlungsarbeit überführt. Vielleicht war sie sogar noch ehrgeiziger geworden, um wiedergutzumachen, was sie angerichtet hatte. Oder aber die Arbeit war das Einzige, was sie von dem Gedanken an Johanna ablenken konnte. Sie arbeitete verbissen, zu viel und auf Kosten ihrer Gesundheit. Bis sie zusammengebrochen war. Und dennoch: Wäre Verónica nicht nur ihre Partnerin, sondern ihre Freundin, hätte sie ihr die Wahrheit sagen können.
„Und was machst du morgen?“
„Schlafentzug.“
„Wie?“
„Therapie gegen Schlafstörungen: wach bleiben bis zum Umfallen und darüber hinaus. Ich darf erst Montagabend wieder schlafen. Bis dahin muss ich mich beschäftigen.“
„Klingt grauenvoll.“
„Klingt wie immer.“
„He – wenn es funktioniert, bist du wahrscheinlich total froh.“
„Wahrscheinlich, ja.“
„Gibt es noch andere, die das machen müssen?“
„Mein Tischnachbar, Gott sei Dank.“
„Ist der nett?“
„Sehr. Ein Manager. Hat eine Menge zu erzählen.“
Dass es ihr vorkam, ihn schon Wochen zu kennen und nicht erst seit drei Tagen, sagte sie nicht. Und auch nicht, dass sie für den nächsten Tag vor dem Frühstück mit ihm zum Joggen verabredet war.
„Ich kann nicht rennen“, hatte sie abgewunken. „Ich krieg schon nach drei Metern keine Luft mehr.“
„Quatsch. Das liegt nur an deiner Pulsfrequenz.“
„Und die rechnest du mir über Nacht aus?“
„Nein, das tut ein kleines Gerät für dich, das du am Arm trägst. Das leih ich dir.“
„Hast du eigentlich für alles einen Apparat?“, fragte sie.
„Für meine arme Seele nicht.“
Auf dem Weg in ihre Zimmer hatte sie sich schließlich überreden lassen.
„Super. Dann warte ich morgen früh um sieben im Foyer auf dich. Es wird der Anfang eines neuen Lebens für dich sein, glaub mir!“
„Genau, was ich brauche … “
Nun, da sie endlich in ihrem Bett lag und hinter den zur Seite gezogenen Gardinen die Lichter der vorbeifahrenden Autos auf der Straße zählte, war sie kein bisschen müde mehr. Im Gegenteil, sie war aufgedreht, sie kam einfach nicht zur Ruhe. All die neuen Gesichter der
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