Sterbendes Land Utopia
Wenn die Häuser sich nicht mehr selbst reparieren, können wir nichts anderes tun, als die Leute zu entfernen. Ich hoffe, es entstehen keine Härtefälle.«
Jarfon von Trewes wußte, daß sie keine materielle Härte meinte, denn solche Dinge gab es seit langem nicht mehr in Brianon. Aber … »Niemand, dessen Familie seit Jahrhunderten in einem Haus gelebt hat. sieht ohne Kummer, wie sein Heim zusammenbricht. Jetzt, da die Tragödie über uns gekommen ist, klammern sich viele an materielle Güter. Das war früher nicht so – in der Zeit vor Eurer Geburt.«
»Vor meiner Geburt …« Die Prinzessin schluckte.
»Ihr wart die letzte, Mylady.«
»Die letzte! Oh, wie ich darum bete, daß es anders sein möge. Wie ich bete, überhaupt nicht am Leben zu sein, um nicht den Todeskampf meines Volkes miterleben zu müssen! Warum wurde ich in die Welt gesetzt, wenn ich nichts tun kann, als auf das Sterben zu warten? Worin liegt denn der Sinn des Ganzen?«
»Niemand konnte sich sein Geschick aussuchen, Mylady. Aber da wir nun hier sind, müssen wir das Leben als Tatsache betrachten und so tun, als hätte es eine Bedeutung …«
»Bedeutung!« Sie drehte sich um und ging steif auf die Balustrade zu, die die Terrasse umsäumte. Eine riesige Pflanze wand sich mit klebrig feuchten Blättern und scharlachroten, gierig geöffneten Trichtern um die Pfeiler. Eine schillernde Fleischfliege setzte sich auf die Lippe, und die Blütenblätter schlossen sich.
»Welche Bedeutung hat das alles für die Fliege?« fragte Kerith düster. »Ihr Tod bringt keinerlei Lösung.«
»Wenn die Pflanze sprechen könnte, Mylady, würde sie Euch die richtige Antwort geben.«
»Aber die Fliege, Jarfon, die Fliege! Natürlich bedeutet sie für die Pflanze Nahrung und Wachstum. Aber die Fliege! Was ist mit dem Opfer?«
»Die Rolle des Opfers ist nicht geringer als die des Siegers.«
»Das ist doch leeres Gerede. Jeder kann sehen, daß es Sieger und Besiegte geben muß. Aber weshalb müssen die Männer und Frauen von Brianon die Besiegten sein? Weshalb hat das Geschick gerade uns ausgewählt? Weshalb?«
Jarfon von Trewes konnte die Not in den Augen seiner jungen Herrscherin nicht mitansehen. »Wenn wir das wüßten, Mylady, gelänge es uns vielleicht auch wieder, Kinder in diese Welt zu setzen.«
Jenseits der rötlichen Gartenmauer erhob sich der Frühlingspalast, ein glänzender Gebäudekomplex, der nur vorübergehend bewohnt war, wenn sich das Land für den kommenden Sommer schmückte. Schwere Baumkronen umhüllten die Kristalltürme des Palastes. Von den Dachgiebeln kam das schläfrige Gurren der Tauben. Nur auf den unteren Terrassen rührte sich etwas. Ein orangefarbener Garten-Roboter setzte die Blumenbeete instand. Drei oder vier Menschen arbeiteten neben dem künstlichen Gärtner. Sie widmeten ihre Zeit und Arbeitskraft freiwillig ihrer mädchenhaften Herrscherin, und ihre Bewegungen waren fast ebenso schnell und geschickt wie die des Roboters.
»Weshalb machen wir uns überhaupt Gedanken?« sagte Kerith und beobachtete, wie die Pflanze ihre Blütenblätter langsam wieder aufrollte. Das Scharlachrot glühte einladend in der Morgensonne.
»Weil wir Menschen sind«, sagte Jarfon von Trewes. Er ging mit schnellen Schritten über die Terrasse. »Wie Ihr gesagt habt, Mylady, wir haben heute viel zu tun. Nach der Umsiedlung hat die Gilde der Grenzer eine Audienz. Dann …«
»Schon gut, mein Freund. Ich bin fertig.« Kerith zog das türkisblaue Gewand enger um den Körper. Ihre Kristallslipper verursachten auf den Fliesen klingelnde Geräusche. »Wir müssen weitermachen – trotz allem.«
Ein hohes, nervenaufreibendes Wimmern erfüllte die Luft.
»Predakker«, sagte Jarfon von Trewes unnötigerweise.
Instinktiv blinzelten sie beide in den hellen Morgenhimmel.
»Es wäre besser, wenn Ihr sofort nach drinnen gehen würdet, Mylady.« Er nahm sie am Arm.
»Ja, Jarfon, Ihr habt recht. Sterben müssen wir, das steht fest, aber ich möchte nicht in den Klauen eines Predakkers sterben.«
Kerith schauderte bei dem Gedanken.
Sie eilten über den bräunlichen Ziegelpfad. Männer und Frauen, die ihren Morgenbeschäftigungen nachgingen, rannten ins Innere des Frühlingspalastes.
Allmählich wurde die Sirene leiser.
*
Von den deckenhohen Fenstern des Mohnblumen-Salons sah Kerith entsetzt nach draußen. Sie wußte, was kommen würde, und sie war froh, daß die dicken Wände zwischen ihr und den Predakkern lagen. Die Wände waren bemalt.
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