Sterbendes Land Utopia
erhob sich. Sie waren im Schlafsaal der Grenzer-Bruderschaft, und Krotch wirkte im Halbdunkel der herabgelassenen Blenden noch vierschrötiger als sonst. »Seit ich Brianon verlassen habe, sind hier seltsame Veränderungen vorgegangen. Die Prinzessin – gesegnet seien ihre hübschen, blauen Augen – bildet sich ein, daß sie die Lösung der Probleme finden kann, wenn sie Pe’Ichen findet …«
»Pe’Ichen?« Waley senkte erstaunt das Glas.
»Das sagt der Mann.« Er setzte sich nervös auf den Bettrand. »Jarfon von Trewes, der Erste Minister, kennt die Idee ebenfalls. Die Gilde soll einen Geleitzug bilden. Ich muß natürlich mit, das erfordert mein Rang …«
»Und ich?«
»Wir werden sehen. Du mußt noch besser werden. Wenn du erst mal drei Schichten ununterbrochen in einer Tretmühle schaffst …« Er duckte sich, als ihm Waley eine Brotrinde nachwarf. »He!«
»Ich möchte das Wort Tretmühle nicht mehr hören. Mir kommt noch immer ein Grauen, wenn ich an Whippy und sein Dingdong denke.«
»Na ja, das ist ja jetzt vorbei. Werde lieber schnell gesund.«
Ihre Kameradschaft hatte einen merkwürdigen Einfluß auf Waley. Von einem haarigen, narbigen, nackten Unbekannten war Krotch über einen Weggefährten zu einem engen Freund geworden. Er führte Waley durch dieses unbekannte Land. Waley hatte das unbehagliche Gefühl, daß er, der unbeherrschte Jack Waley, sich während der Reise verändert hatte. Der Gedanke, einem Mädchen einen Platz am Tisch des Kapitäns zu verschaffen, kam ihm jetzt kindisch vor. Wenn die Kleine unbedingt dort sitzen wollte, dann sollte sie offen darum bitten. Wahrscheinlich hatte man sie nicht aufgefordert, weil sie die Ehre eben nicht verdiente.
Seine Gedanken waren ein wenig wirr. Die Bilder von Drubal und Mimi weckten eine starke Sehnsucht in ihm. Er sah die Wälder und die Grünen. Er sah die tanzende Salome. Er sah die glitzernden Schaufelräder und Mister Whippy. Er sah die Explosion auf der Moonflower.
Waley war eingeschlafen, und Krotch ging auf Zehenspitzen hinaus. Er machte dabei soviel Lärm wie zwei normale Menschen.
Glücklicher Jack Waley.
Als seine Predakker-Wunden verheilt waren, hatte er seinen Anteil an der Beute erhalten: Zwanzig runde Scheiben aus Leder, frisch aus der Stanzerei. Die Ecken waren sauber und ohne Fransen, und durch die Imprägnierung hatte das Leder eine dunkle Bronzefarbe angenommen.
»Zwanzig Dakkos, mein Kleiner! Ganz für dich!« Krotch war hier viel sicherer und lauter als draußen. Nun ja – hier war der Kämpfer unter seinesgleichen. Er konnte trinken, prahlen und schallend lachen, wenn Witze gemacht wurden. Waley hatte das Gefühl, daß sich Krotch nie ändern würde.
Er war vorsichtig die neunundneunzig Stufen in den Hof gegangen, wo gelbes und saphirblaues Wasser unaufhörlich aus Brunnen plätscherte, die die Form von Predakkern hatten. Das Predakkermotiv sah man hier häufig. Waley hatte mit anderen bärtigen, lachenden, prahlenden Männern gesprochen, die alle Ähnlichkeit mit Krotch hatten. Sie waren Grenzer wie er. Sie sammelten sich für den großen Pilgerzug ihrer Prinzessin. Er hatte auch die Soldaten gesehen, saubere, kräftige Männer mit gelben und kupferfarbenen Uniformen. Es bestand eine scherzhafte Rivalität zwischen Grenzern und Soldaten. Waley lernte nach und nach seine neue Umgebung kennen.
Am ersten Tag hatte er sich stark genug gefühlt, einen Spaziergang durch die Stadt Brianon zu machen. Er war mit elastischen Schritten dahingeschlendert, glücklich, daß er wieder frei umherlaufen konnte.
Brianon war schöner als Meroe und Phyrae zusammen, und Waley genoß den Anblick, wenn er auch immer wieder an Gebäuden vorbeikam, die durch Absperrungen geschützt waren. Pferdekutschen fuhren vorbei. Männer und Frauen gingen ihren Geschäften nach. Aber auch hier war die Trauer des Planeten zu spüren. Die Abwesenheit von Kindern war gegenwärtig wie eine stumme Klage.
Eine Prozession kam an Krotch und Waley vorbei, und sie blieben stehen. An der Spitze gingen Männer mit feierlichen Mienen, ganz in Schwarz gekleidet. Dahinter kamen Priester in schillernden Roben. Sie machten einen unsicheren Eindruck. Holzstatuen wurden vorbeigetragen, reich mit Blumen bekränzt. Jungpriester sangen Trauerchoräle. Und dann, in der Mitte der Prozession, junge Mädchen und junge Männer zwischen neunzehn und einundzwanzig. Sie gingen Hand in Hand und waren in durchsichtige, gelbe Gewänder gekleidet. Die Mädchen erinnerten Waley an
Weitere Kostenlose Bücher