Sterbensangst (German Edition)
möglich mit ihrer Familie gesprochen, um Details aus ihrem Leben zu erfahren. Sie hatte sich in einen Soldaten verliebt, den sie bei ihrer Arbeit im Irak kennenlernte. Soweit ich weiß, war er der Feldkaplan seines Regiments. Eine große Liebe, wie es heißt. Was für eine Tragödie, dass es so enden musste.«
»Und Sie setzen das bei der Therapie ein?«
»Wir nutzen alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten.«
»Sie lesen ihr vor?«, fragt McAvoy mit einem Kopfnicken zum Bücherregal hin.
»Manchmal«, antwortet sie. »Gelegentlich einen Liebesroman. Oder Gedichte. Ich erzähle ihr von der politischen Situation im Irak.«
Sie lächelt, als sie McAvoys überraschte Miene sieht.
»Alles Dinge, die sie interessiert haben, Sergeant. Ich habe einen Patienten im Erdgeschoss, der sich immer mehr in sich selbst zurückzuziehen scheint, wenn wir ihm nicht erzählen, wie Sheffield gespielt hat. Es sind immer noch Menschen. Sie sind nur in sich selbst eingesperrt. Wir suchen nach dem Schlüssel, mit dem wir sie befreien können. Wir versuchen, Wunder zu bewirken …«
McAvoy leckt sich die Lippen. Er wirft noch einen Blick auf die Gestalt im Bett. Schließt die Augen. Sieht in sich selbst hinein. Beißt die Zähne zusammen und presst sich die Handflächen gegen die Stirn, während er versucht zu begreifen, was er bereits verstanden zu haben glaubte …
»Sergeant, alles in Ordnung mit Ihnen?«
Alles verschwimmt vor seinen Augen. Der Raum beginnt sich um ihn zu drehen. Seine Beine fühlen sich wie Pudding an, können die Last seiner Gedanken nicht mehr tragen.
»Warten Sie hier«, drängt Dr. Straub, während sie ihn in sitzende Position auf den Boden manövriert. »Ich hole Ihnen ein Glas Wasser.«
Die Tür schwingt auf, und McAvoy bleibt allein im Zimmer zurück, mit verschränkten Beinen und hängendem Kopf auf dem Parkettboden, seine große Gestalt wie ein Schuljunge in sich zusammengesunken.
Er findet die Kraft aufzuschauen.
Richtet den Blick auf das Bücherregal.
Romanzen und Poesie, Märchen und Mythen.
Er streckt die Hand aus und zieht ein beliebiges Buch heraus.
Der Titel verschwimmt vor seinen Augen. Er blinzelt. Stellt den Blick scharf.
Eine Bibel.
Mit einem halben Auflachen schlägt er sie auf.
Die Seiten fallen heraus wie welke Blätter von einem Baum.
McAvoys Schoß ist bedeckt mit Passagen aus der Bibel, wütend in Streifen und Fetzen gerissen, wie Konfetti.
Er starrt den Deckel des leeren Buches an, das er in den Händen hält. McAvoy kann fünf Worte entziffern, wieder und wieder hineingekratzt; tief genug, um auf menschlicher Haut tödlich zu wirken.
Die ungerechte Verteilung
Von Wundern
Und in der Mitte des Mantras, umringt von einer Masse aus wütenden Buchstaben und wildem Gekritzel, ein Bibelzitat, mit derselben zornigen Hand in die Seite gegraben.
So wird mein Zorn ergrimmen über sie zur selben Zeit, und ich werde sie verlassen und mein Antlitz vor ihnen verbergen, dass sie verzehrt werden. Und wenn sie dann viel Unglück und Angst treffen wird, werden sie sagen: Hat mich nicht dies Übel alles betreten, weil mein Gott nicht mit mir ist? (Deuteronomium 31:17)
McAvoy rappelt sich mühsam auf; Fetzen von Bibelzitaten flattern zu Boden, als er sich hochstemmt.
Er atmet schwer, versucht die Wut zu begreifen, die ihn erfüllt und sich in die Heilige Schrift verbeißt.
Wieder starrt er die Gestalt im Bett an.
Er watet durch die Blätter, zertritt und zerknittert die Seiten des Wahnsinns.
Hebt dann ein Blatt auf. Noch eines. Mehr.
Zwischen wüstem Gekritzel und den zornigen Worten verbergen sich ein halbes Dutzend kunstvoller Federzeichnungen; vage und abstrakt, schön und nicht von dieser Welt.
Die Tränen in McAvoys Augen, dieser blaue Schimmer in seinem Blick, lassen die Bilder mit einem Mal scharf hervortreten.
Es sind alles Porträts von Anne Montrose. Komplexe, liebevolle, detaillierte Zeichnungen ihres lachenden, fröhlichen Gesichts.
Er hat diese Strichführung schon einmal gesehen.
Er betrachtet die Bilder eines nach dem anderen. Sie sind Gedichte auf die Gefühle, die die Frau in dem Künstler geweckt hat. Lächelnd. Lachend. Schlafend …
McAvoy hält die letzte der Zeichnungen in die Höhe. Sie ist auf eine herausgerissene Notizbuchseite gekritzelt.
Sie zeigt Anne Montrose schlafend in einem schmiedeeisernen Himmelbett, die Arme auf der Bettdecke ausgestreckt, die Haare auf dem Kissen aufgefächert.
Das Blatt ist von Tränen befleckt.
McAvoy dreht es
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