Sterbenswort: Thriller (German Edition)
Es stimmte mit dem überein, was bei der Leiche gefunden worden war.
»Wie lange haben Sie gewartet?«
»Keiner von uns hat auf die Uhr gesehen. Wir waren ja alle bereits angetrunken. Nein, nicht nur angetrunken, das wäre eine Untertreibung. Ich vermute aber, dass es eine knappe Stunde war.«
»Wie haben Sie reagiert?«
»Zuerst haben wir uns über Erik lustig gemacht. Dass er sich wohl verlaufen habe, im Schneegestöber. Dass er den Weg zum Spätkauf nicht mehr finden würde, so betrunken wie er war.«
Er schlug die Augen nieder.
»Es tut mir heute so weh, dass wir so respektlos waren. Wir wussten ja nicht …«
»Schon gut. Erzählen Sie weiter!«
»Kathrin hat schließlich die Initiative ergriffen. ›Wir müssen ihn suchen‹, sagte sie. Es schien uns ein großer Spaß zu sein. Wie eine Schnitzeljagd. Räuber und Gendarm. Wir teilten uns auf, bildeten ein Frauen- und ein Männerteam. Thomas und ich gingen schnurstracks zum Spätkauf. Der Verkäufer erinnerte sich an mich und daran, dass Erik ein Mal dagewesen sei, aber kein zweites Mal. Uns war kalt, und wir waren inzwischen der Überzeugung, Erik sei in irgendeiner Eckkneipe versackt. Also gingen wir heim. Kurz darauf kamen auch Kathrin und Amelie zurück. Ebenso erfolglos, aber Amelie hielt eine weitere Flasche Wodka in der Hand. Die schafften wir nicht mehr ganz, denn wir wurden müde. Irgendwann ging ich mit Kathrin in ihr Bett, Amelie legte sich in ihres und Thomas schlief in der Küche auf einer Iso-Matte. Der nächste Tag fand dann nicht statt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Na ja, wegen des Katers.«
Kron überlegte, wann er selbst zuletzt einen gehabt hatte. Es wollte ihm nicht einfallen.
»Und am übernächsten Tag?«
»Lernen«, sagte Heinrich Denk, als hätte es gar keine Alternativen gegeben. »Es sind zwar Semesterferien, aber die Zweite Juristische Staatsprüfung liegt vor mir. Es fällt einem nichts in den Schoß. Zumal ich mich beweisen muss.«
»Vor wem?«
»Zunächst einmal vor mir. Dann vor meinem Vater. Ich möchte nach meinem Studium in seiner Kanzlei einsteigen.«
Erst jetzt fiel bei Kron der Groschen.
Denk, na klar, er kannte den Namen.
»Ihr Vater heißt ebenfalls Heinrich mit Vornamen?«
»Ja, ich bin Heinrich Denk junior, wie man so schön sagt.«
»Ich bin Ihrem Vater einmal begegnet«, Kron streckte den Rücken durch. »Beruflich. Er hat einen Mehrfachvergewaltiger hinter Gitter gebracht. Er vertrat die Nebenklägerinnen.«
»Ich glaube, ich erinnere mich an den Fall.«
»Da müssen Sie noch ein Kind gewesen sein. Guter Mann, Ihr Vater. Sehr korrekt, sehr pflichtbewusst, mit hohen Moralvorstellungen. Findet man nur noch selten heutzutage.«
»Danke. Aber entsprechend groß ist seine Erwartungshaltung, was mein Studium betrifft.«
»Das kann ich mir vorstellen. Ach, nun würde ich doch gerne auf den Tee zurückkommen, falls es Ihnen keine Umstände macht.«
»Aber nein. Es ist mir ein Vergnügen.«
»Earl Grey?«
»Gerne.«
»Frau Brandt-Jankovic? Für Sie ebenfalls?«
Krons Kollegin bestätigte, und Denk setzte das Teewasser auf.
»Haben Sie sich gar nicht darüber unterhalten, dass Herr Stein nicht mehr auftauchte?«
»Natürlich.«
»Und Sie haben sich keine Sorgen wegen seines Verbleibs gemacht?«
»Zunächst nicht. Sehen Sie – ohne ihn schlechtmachen zu wollen –, sein Leben verlief, na ja, zuweilen etwas unstet. Künstler eben.«
»Er studierte Regie.« Das wusste Kron bereits.
»Ja, an der ›Ernst Busch‹.«
»Das ist eine Hochschule für Schauspieler, richtig?«
»Genau. Man kann dort aber auch Puppenspieler werden, oder Tänzer, oder eben Regisseur.«
»Kam es öfter mal vor, dass Erik nicht nach Hause kam?«
Die Teekanne pfiff. Denk nahm sie vom Herd und goss das heiße Wasser durch ein Sieb mit einer Earl-Grey-Teemischung in eine Glaskanne, die er auf einen Untersatz mit einem Teelicht stellte. Er sah auf seine Uhr.
»Ja, leider. Sehr schmerzhaft für Amelie.«
»Hat er sie betrogen?«
Denk überlegte kurz.
»Nein, das glaube ich nicht. Er hat einfach immer mal wieder die Zeit vergessen. Er war so besessen von seiner Filmerei. Entweder hat er mit Kommilitonen Filme analysiert oder eigene Experimente durchgeführt, stundenlang, tagelang. Einmal ist er spontan mit zwei Studienkollegen an die Ostsee gefahren, mitten in der Nacht. Sie wollten unbedingt etwas ausprobieren. Mit der Morgensonne, dem Meer und dem Strand. Es hatte mit dem Licht zu tun. Er hat es mir mindestens drei Mal
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