Sterbenswort: Thriller (German Edition)
nahenden Winter vor. Das Trottoir und der Straßenrand voller dunkler, schmutziger Blätter, von Pflastersteinen und Asphalt kaum noch etwas zu sehen.
In der Ferne flog eine Krähe auf, schweigend.
Da entdeckte sie einen Mann, angelehnt an den hüfthohen Zaun, der die Parkanlage eingrenzte. Der Mann starrte vor sich auf den Boden und wollte mit seiner Lidl-Plastiktüte nicht so recht in die herbstliche Stimmung passen.
Einer mehr, der vom Moloch der Großstadt verschlungen wurde, dachte sie und daran, wie knapp sie selbst nur diesem Schicksal entronnen war.
Aber irgendetwas war anders an diesem Mann. Seine Körperhaltung weckte Erinnerungen.
Grün: Amelie bemerkte es nicht.
Mehrere Radfahrer zogen an ihr vorbei, klingelten, bombardierten sie mit Schimpfwörtern.
Wie unter einem Zwang stieg sie ab und schob ihr Fahrrad über den Bordstein, um den Verkehr nicht weiter zu behindern.
Den Blick wendete sie dabei nicht von dem Obdachlosen ab.
Er schien ihre Gegenwart zu spüren, denn langsam hob er seinen Kopf.
Wen Amelie vor sich hatte, war eine ältere Ausgabe ihres früheren Freundes Thomas Pfeiffer. Er sah aus, als wäre er sein eigener Vater.
Mit der Zunge benetzte er seine ausgetrockneten Lippen. Sie entdeckte, dass ihm mehrere Zähne fehlten.
Er fixierte ihr Gesicht, dann wanderte seine Aufmerksamkeit weiter zu ihrem Herzen. Mit hemmungsloser Neugier stierte er in den tiefen Abgrund ihrer Seele.
Ihr wurde kalt, sowohl von außen als auch von innen.
Der Gedanke, aufs Rad zu springen und davonzuhetzen, versiegte, kaum, dass er sich manifestiert hatte.
Willenlos blieb sie stehen, rührte sich nicht.
Thomas Pfeiffer schien sie regelrecht aufzusaugen.
Wieder wanderte seine Zunge von links nach rechts und wieder zurück.
»Amelie«, sagte er schließlich.
Seine Stimme hörte sich völlig unverändert an. Sie klang noch exakt so wie früher.
»Ich sehe dich.«
Jetzt – nach den ersten Sekunden und dem Wiedererkennen – entrückte er. Seine Augen blickten durch sie hindurch.
»Ich sehe dich in diesem vielgelobten Film. In allen großen Kinos läuft er.«
Was faselte er da?
»Dein Bild klebt an Litfaßsäulen, an Plakatwänden, in U-Bahnhöfen.«
Thomas Pfeiffer wanderte durch eine Landschaft jenseits der Realität und teilte ihr mit, was er dort entdeckte.
»Du hast dich sehr wohl gefühlt beim Dreh im Studio in Babelsberg und den Außenaufnahmen in Tschechien. Dein Name ist der erste, der auf der Leinwand erscheint.«
Und was Thomas als Nächstes phantasierte, stach ihr genau ins Herz, verhakte sich dort und sollte sich nicht mehr lösen: »Amelie Stein. Er kommt noch vor dem Filmtitel, dem Namen des Produzenten und dem des Regisseurs, Erik Stein, deinem Ehemann.«
Amelie fühlte sich wie seziert und neu zusammengesetzt.
Die Bestandteile blieben die alten, doch plötzlich wanderte alles an seinen richtigen Platz: Sie lebte ein falsches Leben, das Leben einer anderen.
»Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen. Was Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen.«
Ja, Amelie wusste genau, was er meinte.
»So kann ich – obgleich ich selbst große Schuld trage – weder dem König die Absolution erteilen, noch dir, des Königs Mätresse Anne Boleyn.«
Wenn sie sich selbst schon nicht vergeben konnte, wer sollte das an ihrer Stelle tun können?
Thomas stand auf und näherte sich ihr.
Sie sog seine unangenehmen Ausdünstungen gierig in sich auf.
»Es gibt nur einen, der das vermag.«
Seit mehreren Minuten Amelies erste Regung: Sie nickte.
In einer unerwartet raschen Bewegung griff Thomas’ rechte Hand nach vorne und klammerte sich kraftvoll um ihren Oberarm.
»Er hat noch gelebt, Amelie. Er hat die Augen aufgerissen, als wir ihn von der Brücke gestoßen haben.«
Sie war Thomas dankbar für den körperlichen Schmerz, den sein Zupacken verursachte, denn er lenkte sie ab von all der Pein, die in ihrem Inneren über sie hereinbrach.
Thomas’ Worte begleiteten sie in den nächsten Wochen und Monaten auf Schritt und Tritt. Sie glichen Viren, die Amelie infizierten und fortan ihr Denken und Handeln bestimmten.
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Sterbenswort
L iebe Mutter,
lieber Vater,
in diesem Augenblick sehe ich klar.
Mein Leben, das ich seit Jahren in einem dichten Nebel führe, liegt wie ein offenes Buch vor mir. Ich nutze diesen Moment, da ich nicht weiß, wie lange er andauern wird.
Ich hatte Pläne und ich hatte eine Zukunft.
Beides hatte ich nicht mehr seit dem Tag, an dem
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