Sterbenswort: Thriller (German Edition)
Verlust mindestens ebenso sehr wie sie selbst. Anita Gilbert kapselte sich ab, sie war fortan mehr mit sich selbst beschäftigt als mit allem anderen.
Das änderte sich erst, als Amelies Mutter Wilhelm Stutzkeis kennenlernte. Bereits der siebenjährigen Amelie war klar, dass Anita Wilhelm nicht liebte. Deswegen betrachtete sie ihn keineswegs als Konkurrenz zu ihrem toten Vater.
Wilhelm dagegen unternahm alles, um seiner Angebeteten zu gefallen: Er kaufte Blumen und Geschenke, er führte die kleine Familie aus, er kümmerte sich fürsorglich um die kleine Tochter, strahlte große Verlässlichkeit und Ruhe aus.
Unter materiellen Gesichtspunkten schien er eine gute Partie: Beamter im gehobenen Dienst. Hässlich konnte man ihn sicher auch nicht nennen. Trotzdem lebte Amelie in dem Glauben, es könne sowieso nicht funken zwischen den beiden Erwachsenen.
Doch auch ohne die notwendige Chemie zwischen Liebenden sollte es dem steten Tropfen gelingen, den Stein auszuhöhlen.
Als Anita Wilhelm heiratete, war Amelie zehn Jahre alt. Fortan sollte sie Amelie Stutzkeis heißen.
Sie bezweifelte immer noch, dass ihre Mutter Wilhelm Stutzkeis ebenso sehr liebte wie Louis Gilbert. Sicher war sie sich aber nicht mehr.
In Gedanken glorifizierte sie ihren toten Vater, stellte sich vor, welche tollen Dinge sie mit ihm unternehmen würde; die Einsamkeit blieb.
Ihre Mutter ermutigte sie, ihr beruflich zu folgen. Doch Amelie wollte mehr. Da schlug Anita Maskenbildnerin vor.
Eher widerwillig ließ sich Amelie darauf ein.
Als sie im Rahmen ihrer Ausbildung einen attraktiven, selbstsicheren Regie-Studenten kennenlernte, da veränderte sich ihr Leben.
Sie lernte, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen und sie auch in die Realität umzusetzen. Sie emanzipierte sich sowohl von ihrer Mutter als auch von ihrem toten Vater. Endlich wurde sie erwachsen.
Sie liebte Erik Stein so sehr wie ihren Vater, nein, sie liebte ihn noch sehr viel mehr.
Durch ihren Beruf und ihren Erik lernte sie die Welt des Films und des Theaters kennen. Die Maskenbildnerei befriedigte sie längst nicht mehr. Sie blieb im Metier, wechselte aber die Profession: Sie wollte vor die Kamera.
Gemeinsam schmiedeten die beiden Pläne.
Bis …
Bis zu jenem Tag im Winter, an dem Erik Stein auf tragische Weise sein Leben verlor. Ein Unfall sei es gewesen, so sagte man ihr.
Amelie Stutzkeis verkümmerte, verkroch sich erneut in ihre Einsamkeit.
Die Lebenslust fehlte, um ihre Karriere fortzusetzen.
Sie warf alles hin, brach sogar für über ein Jahr den Kontakt zu ihrer Mutter und zu Freunden ab.
Dann – auf niedrigem Niveau – fing sie sich wieder. Sie hatte das Gefühl, nur noch zu vegetieren, doch sie beschloss, weiterzuleben.
Ihre Mutter machte sie darauf aufmerksam, dass im Seniorenheim bei ihr in der Straße Aushilfs-Pflegekräfte gesucht wurden. Jeder Job war so gut oder so schlecht wie der andere. Amelie bewarb sich, und bereits am nächsten Ersten fing sie dort an.
Der neue Alltagstrott sollte sie über Jahre in ihrer Lethargie gefangen halten.
Herausgerissen wurde sie erst, als ihr Stiefvater auf der Autobahn frontal gegen einen anderen Wagen fuhr. Bereits seit langem hatte er darüber geklagt, dass seine Augen immer schlechter würden. Aus Eitelkeit unterließ er es jedoch, einen Arzt aufzusuchen. So verwechselte er die Schilder an einer Autobahnausfahrt und wurde zum Geisterfahrer. Er war sofort tot. Amelies Mutter – neben ihm auf dem Beifahrersitz – konnte schwerverletzt aus dem Autowrack geborgen worden. Sie wurde sofort in ein künstliches Koma versetzt und sollte die nächsten zehn Monate nicht mehr aufwachen; dann starb auch sie.
Eigentlich hätte Amelie ihre Eltern zum 70. Geburtstag ihrer Tante nach Hannover chauffieren sollen. Doch der Schichtdienstplan im Seniorenheim hatte dies nicht zugelassen. Amelie machte sich schwere Vorwürfe und verbrachte jede freie Minute bei ihrer regungslosen Mutter im Klinikum.
Nach Anitas Tod kehrte der Alltag zurück, langweiliger und grausamer als je zuvor.
Wäre sie an einem bestimmten Abend vor ein paar Monaten nicht mit dem Fahrrad unterwegs gewesen und hätte sie nicht an einer bestimmten roten Ampel halten müssen, so wäre ihr Leben vermutlich unspektakulär weiter- und irgendwann genauso unspektakulär zu Ende gegangen.
Die versinkende Sonne tauchte die kleine Parkanlage zu ihrer Rechten in schummriges Licht. Von all ihren Blättern befreit, bereiteten sich die kahlen Bäume und Sträucher auf den
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