Sterbenswort: Thriller (German Edition)
Erik starb.
Ein Unfall, der keiner war. Ich trage Mitschuld.
Doch Erik ist nicht nach unten auf die Gleise gefallen: Er ist bei mir geblieben und ließ mich nie wieder allein.
Seine Augen beobachten mich, ob ich schlafe oder ob ich wach bin.
Er sieht mir über die Schultern, während ich hier sitze und diese Zeilen schreibe. Jetzt deutet er hinüber auf die gegenüberliegende Wand.
Das Licht der Morgensonne zeichnet dort die Silhouetten von fünf Henkerschlingen ans Mauerwerk. Erik hat sie aufgehängt. Wie immer will er mir sagen, dass ich die Wahl habe, und – wie immer – zeigt er mir, dass jede Entscheidung zum gleichen Ergebnis führen wird.
Mich zu verstecken oder vor ihm davonzulaufen, nutzt nichts: Er ist immer da.
Vor wenigen Tagen oder Wochen hat er mich an einen Platz geführt, an dem ich Amelie getroffen habe. Nach all den Jahren brach ich den stummen Pakt und sprach es aus, das Sterbenswort.
Ich glaube, ich werde die mittlere Schlinge nehmen.
Erik nickt.
Es tut mir sehr leid, dass ich nicht der Sohn sein konnte, der ich sein wollte.
Ihr sollt weiterleben.
Ich nicht.
Thomas
42
Damals
E rik.
Nur noch Erik.
Abgesehen von ihm existierte für Amelie nichts mehr.
Die Leere, die sich in Amelie manifestiert hatte, breitete sich immer weiter aus. Sie fraß sich aus ihrer Seele heraus und dann aus ihrem Körper. Sie verschlang die Wohnung und schon bald darauf den Rest des Universums.
Die Küche der Wohngemeinschaft; die Freunde, die darin saßen, schwiegen und beobachteten; der Geruch von Wodka: Alles hatte sich aufgelöst.
Erik verblieb.
Im hintersten Winkel ihres Bewusstseins war ihr klar, dass sie heulte und schluchzte. Auch die Schallwellen verschluckte das allgegenwärtige Nichts, zusammen mit der voranschreitenden Zeit.
In seinem Tode war sie mit Erik vereint in einsamer Zweisamkeit, so nahe bei ihm wie niemals zuvor.
Der Zustand dauerte ewig und kumulierte in einer Sekunde.
Nach Ablauf der Ewigkeit hörte sie, wie Stimmen wisperten. Kathrin. Heinrich. Thomas.
Amelie erkannte das Thema, die Bedeutung der Worte erschloss sich ihr nicht.
Den toten Erik wahrnehmend, meldete sich ein weiterer ihrer Sinne zurück.
Und noch einer: Ihre Finger fühlten das kühle Metall von Eriks Freundschaftsring.
Ohne darüber nachzudenken, zog sie ihn ab und behielt ihn in ihrer Faust.
43
Heute
K athrin spürte die Blicke der Pfeiffers, während sie Thomas’ letzte Worte las. Als sie zum Ende kam, sah sie auf. Alfred Pfeiffers Augen, schmale Schlitze, funkelten sie böse an. Seine Frau schluchzte leise.
Noch bevor sie den Brief zurück auf den Tisch legen konnte, kam Alfred ohne Umschweife zur Sache.
»Was ist passiert in jener Nacht?«
Er führte seine Hand zur Stirn und wischte Schweiß zur Seite.
Wo beginnen?, dachte Kathrin. Wie viel verraten?
Im Hemdstoff in Alfred Pfeiffers Achselhöhlen zeugten dunkle Flecken davon, wie erregt er sein musste, obwohl er äußerlich gelassen wirkte.
Als er zu schnauben begann, dachte Kathrin an einen Vulkan, der seinen baldigen Ausbruch ankündigt.
»Ich warte.«
Seine Frau, die etwas sagen wollte, brachte Alfred mit einem kurzen strengen Blick zum Schweigen. Gleich darauf fixierte er wieder Kathrin.
Heinrich, der neben ihr zu Boden starrte, schien er gar nicht erst als adäquaten Gesprächspartner zu akzeptieren. Heinrichs linkes Knie berührte Kathrins rechtes, es zuckte unruhig.
Alfred Pfeiffer beugte sich nach vorn.
Wieder war es an ihr, sich der Situation zu stellen.
Alfreds Pfeiffers Stimme wurde lauter und drängender: »Was ist passiert in jener Nacht?«
Immer noch suchte sie nach einer passenden Formulierung, sammelte all ihren Mut, um die Worte über ihre Lippen zu stemmen.
Da geschah das Unerwartete.
»Ich habe Erik getötet«, flüsterte Heinrich, ohne sich zu rühren.
Marlies Pfeiffers Hand wanderte zu ihrem Mund, während sich ihr Mann nach hinten in seinen Sessel fallen ließ. Die Polsterung ächzte.
»Es war keine Absicht«, stand Kathrin ihrem Freund bei.
»Totschlag«, sagte Heinrich leise, als plädierte er vor Gericht für einen Mandanten. »Schwere Verletzung mit Todesfolge, unter Einfluss von Rauschmitteln.«
Vermutlich war diese distanzierte Sachlichkeit für ihn die einzige Möglichkeit, mit seiner Schuld umzugehen.
»Es war ein Unfall«, beharrte Kathrin und widersprach damit auch Thomas’ Worten.
»Erik ist nicht mit dem Kopf auf die Videokamera gefallen. Ich hatte sie in der Hand und habe damit auf ihn
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