Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde
bisschen zu vertrauen.«
Sven schielte zu dem Mann am Nachbartisch hinüber, der in seine Zeitung vertieft war. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, belauscht zu werden. »Andere Menschen sind mir ziemlich egal«, erwiderte er. »Du bist es, um die ich mir Sorgen mache. Diese Leute sind nicht gut für dich. Sie verändern dich.«
»Ja, aber zum Guten. Und jetzt halte ich es für besser, wenn wir das Thema wechseln. Es hat keinen Zweck, mit dir darüber zu reden.«
»Na schön, dann versuch mich zu überzeugen. Was gibt dir dein Glaube sonst noch, außer der rosaroten Brille, durch die du die Welt betrachtest?«
»Wie wäre es mit Hoffnung?«
»Hoffnung?« Er lachte laut auf. »Du bist also der Meinung, Gott gibt uns Hoffnung, ja? Ich bin gespannt, wie du das den Eltern des Jungen erklärt hättest, dessen mit Heroin vollgepumpte Leiche wir letzte Woche in einer heruntergekommenen Baracke gefunden haben. Was ist das für ein Gott, der nicht einmal genug Hoffnung für einen Sechzehnjährigen übrig hat?« Seine Stimme wurde laut vor hilfloser Wut. »Ich finde, man sollte euch Gott-beschützt-uns-und-schenkt-uns-Hoffnung-Predigern die Leiche einmal unter die Nase halten, damit ihr die Wahrheit erkennt! Da draußen laufen Menschen rum, die kleine Kinder missbrauchen und anschließend wie Abfall im Wald verscharren. Und ich bin es, der sich Tag für Tag mit solchem Abschaum abgeben muss. Meine sämtlichen Ideale sind in diesem Dreck versunken, und dann kommst du und sprichst von Gottvertrauen? Drauf geschissen!«
Er schloss die Augen und atmete tief durch. Als er sie wieder öffnete, bemerkte er die verblüfften Blicke der übrigen Gäste. Auch der Mann am Nebentisch sah von seiner Zeitung auf. Doch das war Sven egal. Denn als er Sandra ansah, stellte er bestürzt fest, dass ihre wunderschönen Augen voller Tränen waren. Diesmal war er es, der ihre Hand ergriff. Er spürte, wie sie vor seiner Berührung zurückwich.
»Bitte … ich …«, stotterte er. »Glaub mir, es … es tut mir leid. Ich wollte dich nicht verletzen. Es ist nur … ich bin das alles so verdammt leid.«
Sie wischte die Tränen weg und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Mir war klar, dass dir irgendetwas auf der Seele liegt«, sagte sie mit zitternder Stimme, »aber mit so viel Verbitterung hatte ich nicht gerechnet.«
»Glaub mir, manchmal möchte ich mich verkriechen und mich vor alldem verstecken und diesen ganzen Dreck einfach vergessen. Aber das ist nicht leicht, wenn man jeden Tag mittendrin steckt, verstehst du? Gerade gestern …« Er überlegte einen Moment, ob er ihr den Vorfall lieber verschweigen sollte. Der Gedanke, dass jemand aus ihrer unmittelbaren Umgebung ermordet worden sein könnte und ihr Arbeitgeber vermutlich etwas damit zu tun hatte, machte ihm ohnehin bereits zu schaffen. Andererseits hielt er es für vernünftiger, sie wenigstens über einen der beiden Punkte aufzuklären, zumal sie es früher oder später sowieso erfahren würde. Er holte tief Luft. »Gestern Abend wurde im Nachbarort ein Mann von einem Auto erfasst und getötet. Das war auch der Grund, weshalb ich heute Morgen nicht bei deinem Anwalt erschienen bin. Es spricht einiges dafür, dass es Mord war.«
»Du meine Güte!«, sagte sie entsetzt.
»Ja, das ist aber noch nicht alles. Der Tote hat in eurem Heim gearbeitet.«
Sandra sah ihn besorgt an. »Wie hieß er?«
»Erik Jensen.«
»Jensen?«, stieß sie abfällig hervor. »Das überrascht mich nun überhaupt nicht.«
Sven schüttelte den Kopf. »Siehst du, genau das meine ich. Wie kannst du eine solche Nachricht mit einer derartigen Selbstverständlichkeit aufnehmen? Jeder andere wäre entsetzt.«
»Bei jedem anderen wäre ich auch entsetzt, aber nicht bei Erik Jensen. Er hat im Dienst getrunken, und einmal habe ich ihn sogar dabei erwischt, wie er sich im Überwachungsraum einen Joint gedreht hat. Und das ausgerechnet, als in der Pflegeabteilung ein Virus umging.«
»Warum hast du deinem Chef nichts davon erzählt, diesem Hofer?«
»Das habe ich getan, mehrfach sogar. Aber aus irgendeinem Grund hatte Jensen bei dem in letzter Zeit so etwas wie Narrenfreiheit.«
»Was du nicht sagst.«
»Ja. Irgendwann hab ich ihn dann selbst zur Rede gestellt.«
»Was ist passiert?«
»Er hat mich eine blöde Schlampe genannt, mir den Stinkefinger gezeigt und dann noch gesagt, ich solle ihm nicht weiter auf den Sack gehen. Seitdem bin ich ihm lieber aus dem Weg gegangen. Der Kerl schien zu
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