Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde
wütend macht, ist die Tatsache, dass ich mir heute frei genommen habe. Aber irgendwie hätte ich ja wissen müssen, dass auf dich kein Verlass ist. Du wirst dich eben nie ändern.«
Svens Finger umklammerten das Handy so fest, dass sie ganz weiß wurden. »Wo bist du jetzt?«
»Ich stehe vor meinem Auto, gegenüber von der Kanzlei. Ich hätte zwar auch von dort aus telefonieren können, aber ich wollte mir weitere Peinlichkeiten ersparen.«
»Hör zu«, sagte Sven und versuchte, einen energischen Ton anzuschlagen, »die letzten Wochen waren nicht gerade einfach für mich. Wie du dir vielleicht vorstellen kannst, habe ich im Augenblick genug damit zu tun, mein Leben in den Griff zu kriegen. Es wäre schön, wenn du ein bisschen mehr Verständnis für meine Lage aufbringen würdest.«
»Ich glaube, in dieser Hinsicht hast du sämtliche Ressourcen aufgebraucht.«
Obwohl niemand im Raum war, vor dem er etwas hätte verbergen müssen, blickte Sven zu Boden, wie immer, wenn es um Gefühle ging. »Was hältst du davon, wenn wir uns zum Mittagessen im Lucania treffen? Ich finde, du bist mir noch ein paar Antworten schuldig. Und um die zu klären, ist kein Anwalt nötig.«
Sandra zögerte einen Augenblick. »In Ordnung«, gab sie schließlich nach. »Lass uns das Ganze wie Erwachsene angehen. Wir schulden uns wohl beide eine Erklärung.«
»Also abgemacht.« Sven sah auf die Uhr. »In einer halben Stunde?«
Sie schwieg einen Moment. »Na schön. In einer halben Stunde. Und bitte versuch wenigstens einigermaßen pünktlich zu sein.«
Sven klappte sein Handy zu. Keine Frage, er würde sogar sehr pünktlich sein. Trotz des Zorns über sie und ihr Verhalten, der sich in ihm aufgestaut hatte, vermisste er sie mit jedem verdammten Gedanken.
»Alles in Ordnung?« Neugierig streckte Dennis den Kopf durch die Tür.
Sven nickte. Ja, so weit war alles in Ordnung, bis auf seinen Magen, der einem brodelnden Säurebad glich. »Ich muss weg. Kommt ihr alleine klar?«
»Kein Problem«, sagte Dennis. »Du bist schließlich nicht unersetzlich.« Er setzte wieder sein hämisches Grinsen auf.
»Wie reizend von dir«, bemerkte Sven.
»Nein, im Ernst. Ich gehe den Fall mit unseren beiden Grünschnäbeln noch mal durch. Sieh du erst mal zu, dass du dein Privatleben auf die Reihe kriegst.«
Sven knuffte ihn gegen die Schulter. »Drück mir die Daumen.«
»Mach ich. Und nun verschwinde endlich.«
5
D as Lucania war eines von drei italienischen Restaurants in der kleinen Kannenbäcker-Stadt. Es war besonders an heißen Sommertagen begehrt, da es eines der wenigen Restaurants der Stadt war, die ausreichend Platz im Freien boten.
Sven fuhr an der kleinen örtlichen Polizeiwache vorbei und lenkte seinen Wagen auf einen schmalen Parkplatz schräg gegenüber von dem Restaurant. Nachdem er ausgestiegen war, suchte er mit dem Blick die zahlreichen Tische und bunten Sonnenschirme vor dem Lokal ab, bis er Sandra entdeckte. Sie saß etwas abseits im Schatten, doch er erkannte sie sofort. Da war dieses Vertraute an ihr; die Art, wie sie ihren Kopf hielt und aus ihrem Glas trank. Er hätte sie unter Tausenden von Menschen auf Anhieb erkannt.
Nervös sah er auf die Uhr. Nur etwa zwanzig Kilometer lagen zwischen dem Restaurant und der Dienststelle. Doch um die Mittagszeit schien die Welt nur aus Autos zu bestehen, und er hatte sich gute zehn Minuten verspätet. Er wollte sich um jeden Preis mit ihr versöhnen und konnte es sich nicht erlauben, sie ein zweites Mal zu versetzen. Allerdings wollte er auch nicht übereifrig wirken. Wochenlang hatte er auf eine Reaktion von ihr gewartet. Da war es nur fair, dass sie zur Abwechslung mal auf ihn warten musste.
Mit schnellen Schritten überquerte er die Straße. Auf halbem Weg erblickte ihn Sandra und legte die Zeitschrift weg, in die sie sich vertieft hatte. Sie trug ein weißes T-Shirt, auf das ihr blondes, schulterlanges Haar offen herabfiel, und eine gelbe Caprihose.
»Hallo«, krächzte er und räusperte sich verlegen. »Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe, aber der Verkehr …« Als er sich setzte, spürte er, wie sich auf dem Hemd an seinem Rücken kleine kalte Schweißinseln bildeten.
»Ich glaube, ich bin diejenige, die sich entschuldigen muss«, wehrte Sandra ab. »Und zwar nicht nur für den schroffen Überfall am Telefon.«
Hoppla! Hörte er da so etwas wie Reue in ihren Worten? »Die Situation ist für uns beide wohl nicht ganz einfach«, meinte er
Weitere Kostenlose Bücher