Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde
Feuerwehrleute sprangen heraus, verteilten sich in alle Richtungen, Anweisungen wurden gebrüllt. Jeder Handgriff saß, war tausendmal geübt, Trümmer wurden von der Straße geräumt, Polizei, Notarzt, Rettungswagen … Doch es gab nichts mehr, was sie hätten retten können.
Sven saß hinten in einem Krankenwagen. Eine kratzige graue Decke umhüllte seine Schultern, und ein breites Pflaster zierte sein von Tränen und Blut verschmiertes Gesicht. Der Schock ließ die Geschehnisse wie einen düsteren, unwirklichen Traum erscheinen.
War das möglich? Konnte Dennis wirklich tot sein? Svens Verstand konnte sich nicht damit abfinden. Dieser Schwung, diese Energie, die immer von ihm ausgegangen war. Nein, dieser zerfetzte Körper, der steif und verkohlt auf seinem Auto gelegen hatte, konnte unmöglich Dennis gewesen sein. Nichts erinnerte beim Anblick dieses blutigen, verrußten, leblosen Stück Fleisches an den Freund und Kollegen, dessen hitziger, manchmal überschwänglicher Tatendrang ihn gelegentlich zur Weißglut getrieben hatte.
Sven kam sich vor, als wäre er in diesem grellen Lichtblitz verglüht. Es gab nichts, was er empfinden konnte. Weder Trauer noch Entsetzen. Irgendwie war es, als wäre er innerlich verödet und leer. Das unsägliche Gefühl des Verlusts schien alles zu erdrücken. Zuerst Sandra und nun Dennis. Was kam als Nächstes? Würde er sich selbst verlieren?
Ein Sanitäter reichte ihm einen Becher mit Wasser. Gedankenverloren nahm er ihn entgegen, als wäre jede seiner Bewegungen automatisiert wie bei einer Maschine. Sein Umfeld nahm er kaum wahr. Nur ein Stimmengewirr, das aus weiter Ferne zu ihm drang. Darunter auch das erregte Kreischen einer Frau, die zwei Feuerwehrleuten ihre Sicht der Ereignisse schilderte und den Schock durch einen hysterischen Wortschwall zu überspielen versuchte.
… Ich war gerade dabei, meine Pflanzen zu gießen, als der Wagen vor dem Haus vorgefahren ist. Herr Bergmann und noch ein anderer Mann saßen darin, ich glaube, es war ein Bekannter von ihm, jedenfalls hab ich ihn schon öfter in das Haus gehen sehen …
Sven versuchte die aufgeregte Stimme zu überhören, die zweifelsohne der Nachbarin gehörte und so schrill klang, dass sie fast wehtat. Außerdem verspürte er keinerlei Verlangen, dank ihrer Ausführungen das Geschehene noch einmal zu durchleben. Doch es gelang ihm einfach nicht, sich ihren Worten zu entziehen; seine Gedanken hafteten daran wie ein Magnet.
… Meine Blumen brauchen nämlich sehr viel Pflege, wissen Sie, und deshalb werde ich eben oft auf Fremde aufmerksam …
»Wie geht es Ihnen?«, lenkte ihn eine bekannte, ungewohnt sanfte Stimme von dem dissonanten Timbre der Frau ab. Nur langsam schwenkte Svens Blick herum und fand Rößners untersetzte Gestalt, die neben dem Krankenwagen stand. Er schwieg. Die Frage war ebenso überflüssig wie unnötig.
»Was machen Sie denn hier?«, fragte er stattdessen.
»Einer meiner Mitarbeiter ist tot. Ich denke, das ist Grund genug, finden Sie nicht?«
Mitarbeiter!
»Verstehe«, knurrte Sven, »das Protokoll verlangt Ihre Anwesenheit.«
»Tut mir leid, dass Sie so denken«, antwortete Rößner.
»Was haben Sie denn erwartet, Beifall?«
»Hören Sie, Becker, Sie halten mich vielleicht für ein gefühlskaltes Arschloch, aber glauben Sie mir, Dennis’ Tod geht mir ebenso nahe wie Ihnen.«
Sven fiel auf, dass Rößner zum ersten Mal jemanden beim Vornamen genannt hatte.
»Ich habe ihm zwar nicht so nahe gestanden wie Sie, aber seien Sie versichert, wir alle sind zutiefst betroffen …«
»Sparen Sie sich Ihr Mitgefühl«, wehrte Sven mit belegter Stimme ab. »Mir ist im Augenblick nicht nach Reden zumute.«
»Natürlich«, zog sich Rößner zurück. »Ich wollte eigentlich auch nur sagen: Wenn Sie Hilfe brauchen, meine Tür steht Ihnen jederzeit offen. Außerdem haben wir Psychologen für solche Fälle.«
Sven dachte einen Augenblick über das Angebot nach, bevor er es ablehnte. »Danke, aber ich schätze, ich muss erst mal versuchen, allein damit fertig zu werden. Auf meine Weise.«
… Dann hab ich noch gesehen, wie er sich eine Zigarette angezündet hat, und ich wollte gerade in die Küche gehen, um neues Wasser zu holen, als plötzlich das Haus gezittert hat und sämtliche Fensterscheiben kaputtgegangen sind. Sehen Sie sich meine Schürze an, voller Glassplitter; ich hatte Glück, dass ich mich nicht ernsthaft verletzt habe …
»Sie könnten nur eins für mich tun«, sagte er zu
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