Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde
zum Eingang des Bistros hinüberblickte. Am Verkaufstresen stand ein Mann mit einem Kind an der Hand, und einen Moment lang war Sven sich absolut sicher, dass es sich um Edmund Heibel handelte. Doch dann verschwand das Trugbild schlagartig, und er sah, dass es lediglich ein Vater war, der seiner kleinen Tochter ein Eis kaufte.
»Sven, alles in Ordnung?«, drang Dennis’ Stimme zu ihm durch.
»Ja, sicher«, antwortete er wie im Rausch. »Ich dachte nur …« Er spürte, wie sich seine Hände entspannten, die er unbewusst zu Fäusten geballt hatte. »Ich bin bloß in letzter Zeit ziemlich angespannt.«
»Das ist reichlich untertrieben«, erwiderte Dennis.
»Entschuldige, es ist nur … Ich habe dir doch von dieser Kirchengemeinde erzählt, zu der Sandra seit einiger Zeit geht.«
Dennis nickte.
»Ich weiß nicht, warum, aber irgendetwas sagt mir, dass mit denen etwas nicht stimmt. Ich bin ein paarmal abends dort vorbeigefahren und hab das Haus beobachtet. Mir gehen die Kinder dort einfach nicht aus dem Kopf. Irgendwas ist da faul. Nenn es Intuition.«
Dennis musterte ihn kritisch. »Dieselbe Intuition wie bei Edmund Heibel?«
Sven sah ihn finster an. »Jetzt fang du nicht auch noch an.«
»Im Ernst, Sven, ich finde, du steigerst dich zu sehr in so was rein. Du solltest lernen, die Dinge nicht zu nah an dich heranzulassen.«
»Du findest also, es sollte mir egal sein?«
»Das habe ich nicht gesagt«, konterte Dennis. »Aber du solltest nicht aus jedem Fall einen persönlichen Feldzug machen. Ein wenig Engagement in Ehren, aber du kannst nicht die ganze Welt retten.«
»Nein, da hast du sicher recht«, gab Sven niedergeschlagen zu. »Ich kann ja nicht mal meine Ehe retten.«
Dennis seufzte. »Vergiss es einfach«, knurrte er. »Blödes Thema.« Er schob seinen leeren Teller beiseite, und sein Blick blieb am Nachbartisch hängen. »Gott, ich könnte für eine einzige Zigarette sterben.« Kurz entschlossen stand er auf und ging auf die beiden Punker zu. Er sprach denjenigen der beiden an, den er für den männlichen Teil des Paares hielt. »Entschuldige, hast du mal eine für mich?« Er deutete auf die Zigarettenschachtel, die aus der mit Nieten verzierten Lederjacke herauslugte.
Der Punker sah Dennis verdutzt an. Er hatte sichtlich Probleme damit, dass er von einem Anzugträger angeschnorrt wurde. Nach einigen Sekunden hielt er Dennis schließlich die Zigaretten hin.
Beherzt griff Dennis zu. »Danke. Hast du auch Feuer?«
»Aber reinpfeifen kannst du sie dir selber, was?«
»Ja, ich denke, das schaff ich gerade noch.«
»Hier.« Er warf Dennis eine Streichholzschachtel zu. »Kannste behalten, Alter«, sagte er barsch und beschäftigte sich wieder mit seiner Freundin.
»Gott, wie hab ich dich vermisst«, meinte Dennis und starrte gierig auf die Zigarette in seiner Hand, nachdem er zu Sven an den Tisch zurückgekehrt war.
»Tja«, meinte Sven, »das wird dir nur nichts nützen.« Er deutete auf das Rauchverbotsschild, das über ihnen an der Wand angebracht war.
Dennis seufzte enttäuscht und steckte sich die Zigarette hinters Ohr. »So ändern sich die Zeiten«, schmollte er. »Früher hat man vor dem Kamin geraucht, heute muss man vor die Tür gehen. Komm, lass uns abhauen«, sagte er schließlich. »Kannst du mich zu Hause absetzen? Ich hab King gesagt, ich fahre mit dir.«
»Ist dein Wagen immer noch kaputt? Du solltest die Finger von diesen italienischen Kisten lassen.«
»Ja, aber wenigstens kommt gleich jemand wegen der Heizung vorbei. Immerhin eine Sorge weniger.«
»So schnell? Wie hast du denn das geschafft?«
»Na ja, ich kenne da jemanden, der einen Bekannten hat, der jemand kennt …«
»Erspar mir die Einzelheiten«, wehrte Sven ab und winkte die Kellnerin an ihren Tisch.
Dieses Mal erwiderte er ihr Lächeln.
Knirschend kamen die Räder auf dem schmalen Randstreifen vor dem kleinen gusseisernen Gartentor zum Stehen. Als Sven Dennis’ Haus betrachtete, überkam ihn plötzlich wieder dieses beklemmende Gefühl. Eine Art bedrückende Enge, die sämtliche Instinkte in ihm schärfte. Unsicher sah er sich um, konnte jedoch nichts Auffälliges entdecken. Lediglich im Haus nebenan sah er eine ältere Frau am Fenster stehen, die neugierig zwischen den Gardinen hervorlugte.
»Meine Nachbarin«, klärte Dennis ihn auf. »Die würde einen erstklassigen Beschatter abgeben. Scheint den ganzen Tag nichts Besseres zu tun zu haben, als andere Leute zu begaffen.«
»Ich weiß, was du meinst«,
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