Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde
erwiderte Sven angespannt. »Von der Sorte hab ich auch welche in der Nachbarschaft.«
Dennis betrachtete ihn sorgenvoll. »Du solltest ein paar Überstunden abbauen und nach Hause fahren. Entspann dich ein bisschen und schalt mal ab.«
»Ach, ich weiß nicht.« Abermals blickte Sven an seinem Kollegen vorbei zu dem Haus empor. »Das würde nur damit enden, dass ich stundenlang die Wände anstarre. Da ertrage ich doch lieber Rößners Launen.« Er rieb sich die Anspannung aus dem Gesicht. »Und wie hast du vor, den heutigen Abend zu gestalten?«
»Na ja, ich denke, sobald der Heizungsmensch weg ist, mache ich mich auf dem Sofa breit und hänge vor dem Fernseher ab.«
»Ja, das werde ich wohl auch tun«, sagte Sven und seufzte.
Dennis sah zu ihm hinüber. »Warum kommst du dann nicht vorbei, und wir hängen gemeinsam ab?«
»Gut«, stimmte Sven ein wenig zu schnell zu, »ich bringe die Chips mit.« Er wurde immer nervöser. Der Anblick des Hauses machte ihn misstrauisch, und er hatte nach wie vor keine Erklärung dafür. Es war, als wäre es von einer unheilvollen Aura umgeben. Verlor er jetzt völlig den Verstand?
»Sven?«, fragte Dennis.
»Was?«, fragte er verstört.
»Ich habe dich gefragt, ob du Weißbier magst? Was anderes hab ich nämlich nicht.«
»Äh … ja, geht schon in Ordnung.«
»Wo bist du eigentlich immer mit deinen Gedanken?«
Sven seufzte. »Keine Ahnung«, antwortete er matt. »Ich sehe und fühle in letzter Zeit Dinge, die …« Er schloss die Augen und atmete tief durch. »Ich bin total überdreht, kann nachts nicht schlafen, und jetzt habe ich auch noch Halluzinationen. Ich glaube, ich verliere langsam den Verstand. Und ich ziehe ernsthaft in Erwägung, mir diesbezüglich helfen zu lassen.« Jetzt war es raus. Er hatte sich endgültig und unwiederbringlich zum Vollidioten abgestempelt und wartete auf die Reaktion.
»Hey«, erwiderte Dennis, »du bist einfach nur überarbeitet. Außerdem hängt dein Privatleben im Moment etwas schief. Wer würde da nicht durchdrehen?« Er drückte Sven die Schulter. »Aber für so was sind Freunde da, verstanden? Wir reden heute Abend darüber.«
Und über einen anonymen Anruf , dachte Sven und nickte. »In Ordnung.« Er lächelte dankbar.
Vorsichtig griff Dennis an sein Ohr und zog die Zigarette hervor, die er dem Punker abgeschwatzt hatte. Er behandelte sie wie ein zerbrechliches Erbstück. »Vielleicht solltest du auch mal eine rauchen«, meinte er. »Das entspannt.«
»Wolltest du nicht aufhören?«
»Nur noch diese eine, ich schwör’s.«
»Ja, sicher«, stichelte Sven. »Diese verdammten Dinger bringen dich noch um. Tu mir wenigstens den Gefallen und zünde sie draußen an.«
»Das war wohl mein Stichwort«, grinste Dennis und stieg aus. »Wir sehen uns später«, rief er durch das geschlossene Seitenfenster. »Ich melde mich, sobald der Handwerker weg ist.«
Sven wartete noch, bis Dennis die Haustür erreicht hatte. Er wurde dieses elende Gefühl nicht los, das unaufhörlich an ihm nagte. Verbissen starrte er die unscheinbare Fassade des alten Hauses an, suchte vergeblich nach einem Hinweis darauf, was dieses Gefühl ausgelöst hatte. Etwas an diesem Bild stimmte nicht, war verändert. Doch es musste so unbedeutend, so belanglos sein, dass er es nicht erfassen konnte.
Jetzt kann ich auch noch Verfolgungswahn mit auf die Liste setzen , dachte er und schüttelte den Kopf.
Die Sonne brach durch ein Loch in den Wolken, und ihre Strahlen spiegelten sich in den Fenstern des Hauses. Sven fuhr langsam an.
Auf den Stufen zu seiner Haustür zündete Dennis sich genüsslich die Zigarette an. Der Rauch in seiner Lunge war eine Wohltat, und seine Knie wurden weich wie Butter in der Mikrowelle. Suchend tastete seine Hand nach dem Schlüssel und wurde schließlich in der rechten Tasche seines Jacketts fündig, das an seinem Finger baumelte. Rasselnd schob er den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür.
Den sauren Geruch, der durch den offenen Spalt strömte, bemerkte er nicht mehr. Ebenso wenig das Knistern unter ihm.
Das Letzte, was er wahrnahm, war ein gewaltiger, greller Blitz.
Sven beobachtete die leere Straße im Rückspiegel und wollte gerade losfahren, als ein ohrenbetäubender Donnerschlag die Erde erzittern ließ. Die Druckwelle der Explosion ließ den Wagen schwanken. Instinktiv warf sich Sven auf den Beifahrersitz und schlang die Arme schützend um den Kopf. Fast im selben Moment zerbarst über seinem Kopf die Seitenscheibe.
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