Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde
Rößner, der sich gerade zum Gehen wandte. »Bringen Sie diese Frau zum Schweigen. Ich kann ihr Gekeife jetzt nicht ertragen.«
Rößner bekundete mit einem kurzen Nicken sein Verständnis. »Ich versuche sie zu beruhigen«, versprach er und ging.
Sven trank einen Schluck Wasser und strich sich durch das staubige Haar. Vergeblich versuchte er seine Gedanken zur Ruhe zu bringen, die die entscheidenden Minuten vor dem Unglück so genau analysieren wollten wie ein gewissenhafter Chemiker. Da war zuerst dieses unsichere Gefühl, von dem er nicht wusste, was es ausgelöst hatte. Da war die Nachbarin, die sie durch das Fenster beobachtet hatte und deren schreckliche Stimme ihn jetzt in den Wahnsinn trieb. Dennis, der die Stufen zu seinem Haus hinaufschritt und die Tür aufschloss. Und dann die Explosion. Dieser gleißende Lichtblitz, der das Haus aufblähte und es zerplatzen ließ wie eine Seifenblase. Eine Gasentzündung, wie ihm einer der Feuerwehrleute erklärt hatte, vermutlich ausgelöst durch die glühende Zigarette. Aus seinem Mund hatte das so technisch geklungen, so nüchtern. So teilnahmslos. Wie oft hatte er selbst schon solche Gespräche geführt, hatte anderen Leuten den Tod eines Menschen erklären müssen. Das würde er nie wieder tun können.
Sein Blick fiel auf das abbruchreife Gebäude vor ihm. Das Bild war zerstört, das Rätsel blieb ungelöst. Was um alles in der Welt war falsch daran gewesen? Die Frage nistete sich zwischen Trauer und Ohnmacht in seine ausweglosen Gedanken ein wie ein lästiger Parasit und zwang ihn, seine Erinnerung zu obduzieren. Noch einmal ließ er Dennis in Gedanken die Stufen hinaufsteigen, versuchte jede Einzelheit, jedes Detail der Szene zu rekonstruieren, ließ das Haus im Geiste neu entstehen, vervollständigte das Bild wieder …
… Was soll ich? Mich beruhigen? Sie haben gut reden. Sie waren ja nicht dabei. Ihnen sind nicht massenhaft Splitter um die Ohren geflogen …
… Dennis war an der Haustür, zündete sich die Zigarette an. Das Streichholz fiel qualmend neben den Treppenabsatz. Er suchte in seiner Jacke nach den Schlüsseln, ging auf die Tür zu …
… Ich habe nur deshalb so lange dort gestanden, weil ich mich gewundert habe, dass Herr Bergmann nicht mit seinem eigenen Auto unterwegs war …
… Er fingerte den passenden Schlüssel aus dem Bund. Sein Sakko hing lässig über der Schulter …
… Natürlich wusste ich, dass sein Auto in der Werkstatt war. Man lebt ja schließlich nicht hinterm Mond. Aber ich dachte, er wäre mit dem anderen Wagen gefahren …
… Dann ein grelles Licht, ein kurzes Flimmern. Sonnenspiegelungen auf den Fenstern, Sekunden vor der Explosion …
… Na, der andere Wagen, der in den letzten Tagen ständig vor seinem Haus stand …
… Das Fenster? …
… Es war wohl ein Ersatzwagen, von der Werkstatt. Das ist doch heute so üblich …
… Das Fenster! Ja, natürlich …
… Noch heute Morgen habe ich ihn auf der anderen Straßenseite stehen sehen, so gegen zehn Uhr …
… das Kellerfenster! Das war der Fehler, der das Bild verfremdet hatte. Es war geschlossen gewesen! Er war sich völlig sicher, sah es deutlich vor sich: Es war fest geschlossen! Aber es durfte nicht geschlossen sein. Die defekte Heizung, das ausströmende Gas … Dennis hatte es offen gelassen, um genau dem vorzubeugen, was nun geschehen war …
… Eine Stunde später war er dann weg, und ich hab noch gedacht: Der ist aber heute spät dran …
… Der Regen! Ja, wahrscheinlich hatte er es wegen des starken Regens geschlossen. Natürlich, so musste es gewesen sein. Das war eine logische Erklärung. Doch sie reichte nicht aus, um das Misstrauen zu besänftigen, das erneut in ihm aufkeimte wie eine Giftpflanze. Wäre er dieses Risiko wirklich eingegangen, nach dem Vorfall neulich?
Verdammt! Was war bloß los mit ihm? Sein bester Freund war vor seinen Augen ums Leben gekommen, und er haderte wegen dieser Nichtigkeit mit sich selbst. Er sollte lieber den Tatsachen ins Auge blicken, anstatt …
Der Gedankengang riss ab, wurde umgelenkt und verband sich mit etwas anderem in seinem Unterbewusstsein. Eine Bemerkung, flüchtig eingefangen von seinem Verstand und doch mächtig genug, ihm einen Stoß zu versetzen.
Erschrocken sprang er auf. Die graue Decke rutschte von seinen Schultern und fiel lautlos zu Boden. Hastig kämpfte er sich zwischen Polizeibeamten und Feuerwehrleuten hindurch zu der kleinen Gruppe um die Nachbarin.
… Ich
Weitere Kostenlose Bücher